Wochenblatt: Das Hochwasser Mitte Juli hat NRW hart getroffen. Müssen wir zukünftig anders vorsorgen?
Scharrenbach: Der Hochwasserschutz in NRW funktioniert – auch wenn das medial häufig anders dargestellt wird. Die haupt- und ehrenamtlichen Helfer haben hervorragende Arbeit geleistet. In der öffentlichen Wahrnehmung hat die Unterstützung durch Bäuerinnen und Bauern, landwirtschaftliche Lohnunternehmen, Garten- und Landschaftsbauer und viele andere Gruppen zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Es wurde schnelle Hilfe geleistet – vom Aufräumen bis zu Futterspenden. Dafür bedanke ich mich sehr.
Zur Person
Ina Scharrenbach aus Kamen ist seit 2017 Ministerin für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstellung in Nordrhein-Westfalen. Von 2012 bis 2017 gehörte die studierte Diplom-Betriebswirtin (FH) als Abgeordnete dem nordrhein-westfälischen Landtag an. Sie ist Sprecherin der unionsgeführten Bundesländer in der deutschen Bauministerkonferenz. Außerdem wurde sie in die Kommission „Nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“ in Berlin berufen.
Was heißt das für die Vorsorge?
Man muss unterscheiden zwischen ‚normaler‘ Überflutung und Starkregenereignissen, die punktuell mit großen Wassermengen verbunden sind. Es gilt, hochwassermindernde dezentrale Maßnahmen im ländlichen Raum zu organisieren. Das ist vielfach schon erfolgt. Die Kommunen, in denen bereits Hochwasserschutz umgesetzt wurde, haben nicht die gravierenden Schäden gehabt. Gemeinsam mit den Kommunen müssen wir jetzt ganz gezielt nochmal die kleineren Bachläufe unter die Lupe nehmen und Verbesserungen umsetzen.
Es mehren sich Stimmen, beim Wiederaufbau anders vorzugehen.
Das werden wir auch machen. Es gab Feuerwachen, die an einem Bachlauf standen und jetzt weg sind. Da überlegen wir mit den Bürgermeistern, wo wir sie sinnvollerweise neu bauen können.
Feuerwachen sind das eine, das andere Schulen, Rathäuser, Unternehmen und Privathäuser.
Wir werden uns das individuell für jede Kommune ansehen. Wenn Sie zum Beispiel Unternehmen betrachten, die seit Jahrhunderten an einem Ort sind und regelmäßig von Hochwasser betroffen sind, dann entscheiden Sie anders, als wenn Sie ein Einfamilienhaus haben, das in einem Schwachrisikogebiet gebaut wurde und jetzt erstmals von einem Hochwasser betroffen ist.
Das jüngst auf Bundesebene verabschiedete Baulandmobilisierungsgesetz erleichtert die Ausweisung von Baugebieten. Ist es erstrebenswert, wenn gleichzeitig Ortskerne veröden?
Wir haben uns aus NRW sehr aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Wir wollen, dass Siedlungsbereiche mit weniger als 2000 Einwohnern sich weiter entwickeln können. Das Abkapseln solcher Orte von der Entwicklung, wie es von SPD und Grünen vorgesehen war, haben wir gestoppt. Denn es ist doch logisch: Um Infrastruktur zu erhalten, bedarf es der Entwicklung. Das Problem leerer werdender Ortskerne gehen wir auch an: Dazu haben wir das Programm „Jung kauft Alt“ aufgelegt. Es ist am besten, wenn die vorhandene Struktur jungen Familien zugänglich gemacht wird. Aktuell wachsen kleine Gemeinden in Nordrhein-Westfalen.
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Den Kampf gegen den Flächenverbrauch haben Sie aufgegeben?
Nein. Im Landesentwicklungsplan steht es nicht mehr, aber ich trage das 5-Hektar-Ziel im Herzen. Ich bin eine große Anhängerin der Auffassung, dass ein Land sich im Großen und Ganzen selbst versorgen können muss. Dazu gehört auch die Nahrungsmittelversorgung - und für die Nahrungsmittelerzeugung braucht es Böden. Insofern haben alle Landwirte mich da schon mal an ihrer Seite. Aktuell schauen wir uns Siedlungsentwicklung und Nachverdichtung in den nächsten 10 bis 20 Jahren an. Damit wir auch das Thema Mobilität gut lösen, versuchen wir eine gute Anbindung an Schienenhaltepunkte zu erreichen. So streuen wir nicht so sehr in die Fläche und weisen sinnvoll Wohnungsbau aus.
Gerade waren Sie in Beckum, bei der Einweihung des ersten Hauses aus dem 3D-Drucker. Beton hat nicht die beste Klimabilanz. Holz ist schwer zu bekommen. Wie werden wir in Zukunft bauen?
Dieses Gebäude verbraucht viel weniger Material und Beton als ein herkömmliches Massivhaus, denn viele Materialien sind wiederverwertbar. Gerade diese Kreislaufwirtschaft macht 3D-Druck spannend für die Zukunft. Grundsätzlich bin ich große Anhängerin von Bauen mit Holz. Die Holzknappheit hängt mit dem unterschiedlichen Wiederanfahren der Volkswirtschaften nach Corona zusammen. Ich gehe davon aus, dass wir im zweiten Halbjahr wieder zu verträglichen Preisen kommen.
In Baden-Württemberg, Berlin und Hamburg gibt es künftig eine Solarpflicht für Privathäuser. Sie sind dagegen. Warum?
Weil in NRW das Thema ohne Pflicht läuft. Gerade bei kleinen PV-Anlagen auf Dächern haben wir einen ungeheuren Zubau.
PV-Freiflächenanlagen sind in NRW nur auf wenigen Flächen möglich. Sie könnten sie auch auf benachteiligten landwirtschaftlichen Flächen erlauben. Warum macht NRW davon keinen Gebrauch?
Wir sind in einem Austausch- und Diskussionsprozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Wenn unter einer Freiflächenanlage keine Landwirtschaft mehr betrieben werden kann, hat das Auswirkungen auf Importe im Nahrungsmittelbereich. Ich bin weder im Energie- noch im Nahrungsmittelbereich eine Freundin von zunehmenden Importen.
Kann Agri-PV, also die gleichzeitige Nutzung von Flächen zur Pflanzen- und Energieproduktion, ein guter Kompromiss sein?
Es könnte ein Kompromiss sein. Hier kann das Land gezielt unterstützen. Allerdings wünsche ich mir da manchmal eine größere Experimentierfreude in den zuständigen Behörden, also den Unteren Naturschutz- und den Baugenehmigungsbehörden. Zentral ist die Frage nach der Intention der Anlage: Will ein Landwirt wirklich Obst und Gemüse anbauen? Oder ist der Anbau darunter ein Hilfsvehikel, um den § 35 des Baugesetzbuchs zu umgehen und Energiegewinn aus PV zu machen? Die zuständigen Behörden kennen ihre Landwirte vor Ort und können sie einschätzen.
Agri-PV liegt in der Verantwortung der Landesregierung. Wann wollen Sie Klarheit schaffen?
Die Vorschläge liegen bei mir auf dem Tisch. Der Fokus liegt derzeit aber auf dem Hochwasser. Unser Ziel ist, noch in diesem Jahr zu klären, wie wir Agri-PV möglich machen können.
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Der Flächenbedarf bei Windenergie ist ungleich niedriger als bei Solarenergie. Sie haben jüngst neue Abstandsvorgaben für Windenergieanlagen verabschiedet: 1000 m zur Wohnbebauung. Wie wollen Sie mit dieser restriktiven Vorgabe Ihre Ausbauziele erreichen?
Es gibt Bundesländer, die haben Flächen. In NRW sind sie knapp. Durch den Ausbau der vergangenen Jahre sagt die Bürgerschaft in einigen Regionen: Wir können nicht mehr. Dort habe ich andere Voraussetzungen als in Teilen des Münsterlandes, wo die Bürgerschaft sagt: Wir wollen! Als Landesregierung muss ich mit einer Rahmengesetzgebung einen Ausgleich finden. Daher haben wir einen Mindestabstand, einen Schutzabstand, gezogen. Wir sind der Auffassung, dass wir durch Repowering unsere Ausbauziele dennoch erreichen – in Verbindung mit Photovoltaik, Geothermie, Wasserstoff und allem, was kommt.
Auch für das Repowering gilt der 1000 m-Abstand. Nur ein Bruchteil der alten Anlagen kommt dafür infrage.
Die ganzen Altanlagen sind vernachlässigbar gegenüber den neuen Anlagen mit 4,5 oder 5 Megawatt. Mit weniger Anlagen lässt sich mehr Energie erzeugen. Wir brauchen nicht mehr diese Vielfalt an Stangen. Wir bekommen eine automatische Reduktion und – so hoffe ich – ein Sich-Zurückziehen der Anlagen in das Innere von Konzentrationszonen. Außerhalb dieser Zonen entscheiden die Städte und Gemeinden selbst: Soll da ein 1000 m-Abstand gelten – ja oder nein?
Machen Sie es sich nicht zu leicht, wenn Sie die Verantwortung zu den Kommunen schieben?
Nein, denn nichts ist unmittelbarer als die kommunale Politik. Wir setzen einen Rahmen, der die Vielfalt dieses Landes mit den Ausbauzielen der erneuerbaren Energien zusammenbringt.
Windenergieanlagen in Nutzforsten sind aktuell nicht möglich. Wird sich das ändern?
Im Landesentwicklungsplan haben wir restriktive Möglichkeiten. Wir beraten derzeit, was wir mit Kalamitätsflächen machen. Eine Änderung des Landesentwicklungsplans ist zeitlich in dieser Legislaturperiode nicht mehr möglich. Aber das Thema kommt auf die Agenda.
Also eine punktuelle Öffnung?
Könnte sein, ja. Wir müssen schauen, wie wir für die Waldbauern sinnvolle Ergänzungen hinbekommen, bis der Wald wieder so gewachsen ist, wie er mal war.
Derzeit treibt das Baurecht Landwirte um. Sie sollen für mehr Tierwohl sorgen – aber selbst auf Haus Düsse verzögert sich die Genehmigung für den Zukunftsstall.
Seit Juli 2020 hat die Landwirtschaftskammer intensive Grundlagenarbeiten, wie Vermessungen, Boden- und Schadstoffgutachten, sowie die konkrete Objektplanung veranlasst. Zeitgleich wurde das Genehmigungsverfahren vorbereitet. Nach Abstimmung mit der Genehmigungsbehörde ist nun vorgesehen, dass für den gesamten Standort Haus Düsse ein Verfahren nach Bundes-Immissionsschutzgesetz durchgeführt wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Erstellung einer Umweltverträglichkeitsprüfung vorgesehen. Die Einreichung der erforderlichen Anträge ist für August/ September 2021 vorgesehen.
Ist das nicht eine Blaupause für die Hürden, die auch auf die Landwirte zukommen?
Wir sammeln jetzt Erfahrungen, die am Ende allen Landwirten zugute kommen.
Will Politik über das Baurecht landwirtschaftliche Produktion einschränken?
Nein, im Gegenteil. Wir haben verschiedene Erleichterungen für Landwirte in die Bauordnung reingesetzt. Das Bauplanungsrecht, also der § 35, wurde kurz vor der Sommerpause nochmal geändert, um Tierwohlställe möglich zu machen. Das hätte früher kommen können.
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Die Änderung gilt jedoch nur für Sauenhalter, nicht für Mäster. Das ist ein sehr kleines Möglichkeitsfenster.
Aus Niedersachsen kam der Vorschlag, Tierwohlställe mit im Baulandmobilisierungsgesetz zu regeln. Wir haben aus NRW zugestimmt, weil wir es erstens brauchen und zweitens ansonsten nicht zu Rande kommen mit dem Bauplanungsrecht. Die Mehrheit der Länderkammer hat das allerdings nicht so gesehen – und die Mehrheit im Deutschen Bundestag auch nicht. Sie haben es partiell im Bauplanungsrecht geöffnet. Am Bauordnungsrecht liegt das nicht.
Sie sind die erste Heimatministerin von NRW und haben ein ganzes Füllhorn an Heimatschecks, -preisen und -zeugnissen verteilt. Wie viel von den 150 Mio. € angekündigtem Heimatgeld ist schon vergeben?
Es ist noch Geld da. Das Land hat bisher 82 Mio. € Fördermittel bewilligt und freigegeben. Insbesondere der Heimat-Scheck über 2000 € als Möglichmacher für kleinere Projekte erweist sich als Renner. Er wurde bisher rund 3700 Mal vergeben. Insgesamt wurden mehr als 4400 Heimat-Projekte bewilligt, im Durchschnitt sind das an jedem Werktag sechs.
Unserem Eindruck nach läuft die Zusammenarbeit zwischen ihrem Haus und dem Westfälischen Heimatbund nicht ganz rund. Wie ist Ihre Wahrnehmung?
Aus unserer Sicht läuft die rund. Das merken wir auch an Anfragen und unserem Fördergeschäft. Mit dem Heimatzeugnis erhalten wir vielfach auch ländliche Bausubstanz. Wir unterstützen Menschen dabei, historisches und kulturelles Erbe ihres Ortes zu erhalten.
Die Novelle des Denkmalschutzgesetzes hat zu Diskussionen geführt. Es war sogar von Entmachtung der Landschaftsverbände als großen Fachbehörden in diesem Bereich die Rede. Will Düsseldorf ihnen an den Kragen?
Zentral für den Denkmalschutz und die Denkmalpflege zuständig sind die 396 Städte und Gemeinden als Untere Denkmalbehörden. Sie entscheiden. Die Aufgabe der Landschaftsverbände bleibt. Sie haben sich einzubringen. Und die Beteiligungspflicht durch die Städte und Gemeinden bleibt auch. Es gibt aber nur noch eine Anhörung - und damit werden die Prozesse schneller. Das sind Verwaltungsinterna, mehr nicht.
Das bedeutet, dass die Denkmalpfleger beim Landschaftsverband nicht mehr das letzte Wort haben?
Sie haben nie das letzte Wort gehabt. Denn die Städte und Gemeinden sind zuständig und haben die dafür notwendigen Rechte. Wir kürzen nur den Aushandlungsprozess ab. Wenn ein Landschaftsverband mit etwas nicht einverstanden ist, kann er unverändert die für Denkmalschutz zuständige Ministerin anrufen.
Städte und Gemeinden haben nicht unbedingt das Fachpersonal für diesen Bereich. Wie sollen sie das stemmen?
Sie können sich mit mehreren Gemeinden zusammentun, um die Aufgabe gemeinsam zu erledigen. Dann werden Fachstellen vielleicht auch eher besetzt. Eine Gemeinde kann das aber auch auf den Kreis übertragen, der nochmal mehr Mitarbeiter und Verwaltungskraft hat.
Was wird sich an der Gesetzesnovelle noch ändern?
Es bleibt beim Antragsrecht für die Landschaftsverbände. Das Gesetz soll zum 1.1.2022 in Kraft treten. Wir arbeiten jetzt mit Hochdruck, weil es nach der Sommerpause in den Landtag eingebracht werden muss.
Bildungsministerin Karliczek hat 2018 gesagt, 5G brauche es nicht an jeder Milchkanne. Gibt es im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse Leistungen, die tatsächlich an jeder Milchkanne verfügbar sein müssen?
In der Stadt haben sie kurze Wege, aber es ist laut. Im ländlichen Raum haben sie eher weitere Wege, aber sie haben eine sehr hohe Luft- und Aufenthaltsqualität. Jeder Raum hat Vor- und Nachteile. Kriege ich die alle ausgeglichen? Nein. Wofür wir Sorge tragen müssen, sind die Daseinsvorsorgeleistungen. Dazu gehört für mich auch das Internet. Das ist genau wie Strom, Gas und Wasser.
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Gute Luftqualität statt einem vernünftigen ÖPNV?
Die politische Illusion, dass wir einen ÖPNV im 10-Minuten-Takt machen und dann die Landbewohner nicht mehr mit dem Auto zum Einkaufen fahren, bleibt eine Illusion. Sie werden im ländlichen Raum immer auf das Auto angewiesen sein. Der Antrieb ändert sich.
Was sind die größten Herausforderungen im ländlichen Raum NRWs?
Das wird im ländlichen Raum definitiv die Energieversorgung sein. Und dabei vor allem der Switch in der Energieversorgung. Große Landmaschinen werden sie mit E-Mobilität nicht betreiben können. Auch kein Löschfahrzeug oder ein Notstromaggregat. Da gehört auch ein Ehrlichmachen seitens der Europäischen Union und der Bundesebene dazu. Wenn die EU der Auffassung ist, dass es nach 2030 gar keine Verbrenner mehr geben soll, fehlen mir Antworten, wie das funktionieren soll. Wir werden hybride Kraftstoffe brauchen. Bei LNG und LPG werden die steuerlichen Subventionen auslaufen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung sie verlängert.
Hat sich das Format des NRW-Heimatministerium bewährt?
Ja. Der ländliche Raum hat in der Summe eine höhere Wahrnehmung und Wertschätzung erfahren als es in vielen Jahrzehnten in Nordrhein-Westfalen der Fall war. Alleine deswegen würde ich es nach der nächsten Wahl fortführen.
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