Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen

Sich selbst verteidigen

Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben mindestens einen (sexuellen) Übergriff. Sich selbst zu verteidigen braucht Übung. Vor allem aber braucht es eines: Das Wissen um die eigenen Möglichkeiten.

Zwischen grauen Pflaster­steinen und Nummernschildern hält mich plötzlich jemand von hinten an den Hand­gelenken fest. „Fußtritt, lösen, Abstand gewinnen“, klingt es mir im Ohr. Dann trete ich zu. Wenn auch nicht zu fest, denn heute übe ich zum Glück nur, mich zu verteidigen. Bei der „Angreiferin“ hinter mir handelt es sich um Veronika Wenzel vom Frauensportverein Münster. Sie engagiert sich dort ehrenamtlich als Trainerin für Selbstverteidigung und Ju-Jutsu. Mit dabei ist ihre Kollegin Christa Kortenbrede. Ihr Fachgebiet: Selbstbehauptung. Doch was genau ist das? Und wann sollte ich mich überhaupt selbst verteidigen müssen?

Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen. Das besagt eine Studie der Europäischen Grundrechteagentur aus dem Jahr 2014. Ältere Studien zum Einsatz von Gegenwehr von 1994 zeigen, dass Übergriffe deutlich öfter abgebrochen werden, je nachdem wie eindringlich die Betroffenen sich zur Wehr setzten. Durch leichte Gegenwehr in Form von zögerlichem Einsatz der Stimme und des Körpers konnten 68 % der Angriffe ab­gewehrt werden, bei massivem energischen Einsatz von Stimme und Körper waren es sogar 84 %.

Von Scham und Schuld

„Ein Übergriff oder Angriff löst gerade bei Frauen häufig Ohnmacht und Schamgefühle aus“, erklärt mir Christa Kortenbrede. Vor allem, wenn die Übergriffe im Bekanntenkreis stattfinden, steigen die Hemmungen. „Natürlich ist einzig die Person, die sich übergriffig verhält, verantwortlich“, macht sie klar. „Aber Frauen sind so sozialisiert, dass sie einen Blick auf ihre Umgebung und Mitmenschen haben und den Fehler häufig bei sich suchen.“ Deshalb falle es ihnen oftmals schwer, sich eigener Rechte bewusst zu werden. Selbstbehauptung beginnt folglich im Kopf und geht mit dem Wissen einher, sich für eigene Interessen einsetzen zu dürfen. „Und das am besten lautstark“, ergänzt ­Veronika Wenzel. „Das ist oft gar nicht so leicht.“

Für sich selbst einzustehen, das fange schon an der Supermarktkasse an, wenn Menschen einem zu nahe kommen. Schreien ist da vielleicht fehl am Platz, diskutieren möchte man auch nicht. Was nun? Ein Tipp der Expertinnen: Bei eigenen Grenzen beginnen und dem Gegenüber nichts unterstellen. „Mir ist das zu nah!“, wäre eine mögliche Aussage.

Ab wann zuschlagen?

Solche und ähnliche Situationen sind zwar unangenehm, aber vergleichsweise harmlos. Mir drängt sich eine Frage auf: Was, wenn es extremer wird? Ab wann darf ich mich auch körperlich wehren?

„Auch wenn diese Frage uns immer wieder gestellt wird, ist das im Grunde recht simpel“, erklärt Veronika Wenzel. „Legt jemand den Arm um dich und du möchtest das nicht, solltest du zunächst, wie ­gehabt, laut deine Grenzen klar­machen. Folgt die Person dem Wunsch nach Abstand nicht, darfst du handgreiflich werden.“ Obwohl mir das einleuchtet, zögere ich. „Die Person, die dich festhält, hat jede Chance, sich zu schützen, indem sie den geforderten Abstand einnimmt“, sagt Veronika Wenzel. Das überzeugt mich.

Als gesetzliche Grundlage gilt der Notwehrparagraf aus dem Strafgesetzbuch. Dieser besagt, dass eine aus Notwehr begangene Tat nicht rechtswidrig ist. Dazu zählen Gefahren für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder einem anderes Rechtsgut. Selbstverteidigung ist immer das letzte Mittel, um ­einen Kampf oder Übergriff zu ­verhindern.

Bis in Fleisch und Blut

Nun juckt es mich aber doch in den Fingern, selbst einen Griff zu erlernen. Veronika Wenzel und Christa Kortenbrede zeigen mir, wie ein Befreiungsmanöver aussehen kann. Die Situation: Eine Frau wird auf einem Parkplatz von hinten an den Handgelenken festgehalten. Christa befreit sich in einem Rutsch. Das sieht gar nicht so schwer aus, denke ich. Und schon darf ich das Gesehene unter fachkundiger Anleitung ausprobieren: Fuß anheben, dem Angreifenden auf den Fuß treten, absetzen, Bein anheben, Griff lösen, umdrehen, Abstand gewinnen. Zunächst bin ich unsicher, verfehle den Fuß der Trainerin oft. Nach 20 Wiederholungen habe ich den Ablauf grundlegend im Kopf. Richtig sicher fühle ich mich nach dem 30. Mal noch nicht. „Man muss selbst sehr oft üben, bevor solche Bewegungsmuster in Fleisch und Blut übergehen“, sagt Veronika Wenzel.

Zusammen raufen

Genau deshalb bietet der Frauensportverein Münster verschiedene Kurse rund um Selbstbehauptung und -verteidigung an. Auch Ju-Jutsu, eine Kampfsportart, die Grundlage vieler Selbstverteidigungs­griffe ist, wird dort gelehrt.

Eine Besonderheit des Vereins: Es gibt ausschließlich Trainerinnen. Im geschützten Rahmen können Teilnehmerinnen ihren Körper und ihre Kraft kennen lernen. Christa Kortenbrede erzählt: „Die wenigsten Mädchen raufen auf dem Schulhof, und nehmen sich gegenseitig in den Schwitzkasten. Im Kurs können sich die Frauen austesten.“

Anders als in einem Sporttraining geht es in einem Selbstverteidigungskurs nicht darum, dass jede Kursteilnehmerin alle Griffe exakt beherrscht, erklärt Veronika Wenzel. „Es geht darum, die Stärken der Frauen mit in die Techniken einzubauen.“ Ideen aus dem Kurs sollen den Frauen helfen, sich in kritischen Situationen handlungsfähiger zu fühlen.

Auch der Austausch von Erfolgsgeschichten ist Teil der Kurse. „Das macht Mut, stärkt und gibt viele neue Ideen für schwierige ­Situationen“, lächelt Veronika Wenzel.

Selbst-bewusst-sein

Mittlerweile ist mir klar, dass zur Selbstverteidigung wesentlich mehr gehört als eine reine Kampftechnik. Es geht um das Kennenlernen des eigenen Körpers, um Achtung der eigenen Grenzen und vor allem darum, für sich einzustehen. Einfach: Es geht um Selbst-bewusst-sein.

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