Mit einem leisen „Ping“ öffnet sich die Tür das Fahrstuhls. Lediglich die kleine, rot leuchtende 2 über der Öffnung verrät, dass wir uns nicht in einem herkömmlichen Gewächshaus befinden. Dabei erwecken die Glasdächer und die Pflanztische durchaus den Anschein. Auf den Tischen steht Basilikum – in allen Entwicklungsstadien. Von unten führen Leitungen zu den Tischen. „Hier kommt das Wasser mit dem Dung der Fische an, mit dem wir die Pflanzen gießen“, erklärt Nicolas Leschke, der Gründer der Dachfarm. Wer ein Stockwerk früher aus dem Fahrstuhl steigt, der steht mitten in einer Fischfarm, mit eigenen Zerlege- und Kühlräumen. Denn oberhalb des 2021 erbauten Supermarktes betreibt Nicolas Leschke mit einem Gärtner und zwei Fischwirten auf zwei Etagen vertikale Landwirtschaft.
Was ist „Vertikale Landwirtschaft“?
Erste Versuche, Pflanzen in Regalsystemen zu kultivieren, fanden in den 1960er-Jahren im Forschungsgarten der Bayer-Werke in Leverkusen statt. Doch den Begriff der „vertikalen Landwirtschaft“ sollte erst Dickson Despommier prägen. Der ehemalige Professor der Columbia University in New York City entwickelte 1999 die Idee, Pflanzen für die menschliche Ernährung in und auf Hochhäusern anzubauen. Heute zählten in Regalen gestapelte Pflanzen ebenso zu vertikalen Anbausystemen wie pyramidenförmig angeordnete Pflanzen oder Anbauflächen auf Dächern. Dank des Baus in die Höhe wird die Fläche effizienter genutzt. Um Problemen mit der Statik vorzubeugen, wird oftmals auf den Einsatz von Erde verzichtet. Die Wurzeln der Pflanzen werden über Wasser (hydro- und aquaponisch) oder die Luft (aeroponisch) mit Nährstoffen versorgt. Bei der Aquaponik kommt das nährstoffreiche Wasser für die Pflanzen aus der Fischzucht. Das pflanzlich „gereinigte“ Wasser speist erneut die Fischbecken.
Mieter mit vielen Tieren
Gut 1600 m2 Fläche misst das Areal, auf dem mithilfe der Sonneneinstrahlung und bei Bedarf energiesparender LED-Lichter das grüne Kraut heranwächst. „Wir erweitern den uns zur Verfügung stehenden Platz noch, indem wir die Pflänzchen beim Keimen stapeln“, erklärt Leschke, und deutet auf die selbst entwickelten Wagen, in denen fünf Lagen kleinster Sprösslinge unter künstlichem Licht wachsen.
Der studierte Betriebswirt startete bereits 2014 mit seiner ersten Aquaponik-Anlage in Berlin. Seine Idee, Fischzucht und Gemüseanbau zu kombinieren, hat er seitdem in die Schweiz sowie nach Belgien verkauft. Die Farm in Wiesbaden ist aber eine Besonderheit. Denn hier hat sein Team nicht nur die Pläne entwickelt, es betreibt sie auch. „Wir zahlen Miete, produzieren in den von uns entwickelten Räumen und haben im Gegenzug einen Abnahmevertrag mit der Supermarktkette“, erklärt der 45-Jährige. 800 000 Pflanzen und rund 10 t Barsch gehen jährlich über die Theken der regionalen Rewe-Supermärkte.
Nicolas Leschke bezeichnet seine Form der vertikalen Landwirtschaft als eine der wenigen, die sich unterm Strich für ihn und den Lebensmittelhandel rechne: „Nur aus Prestigegründen würden die das auch nicht machen.“
Einige Pleiten
Dennoch brachte das Jahr 2023 viel Ernüchterung hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit des Vertical Farmings. Meldungen von Pleiten, spekulativen Transfers und Ausverkäufen häufen sich. Hier drei Beispiele deutscher Start-ups:
Infarm – Drei Israelis gründeten 2013 in Berlin das Unternehmen, das mit wasserbasierten Anbausystemen für Kräuter und Salat in Supermärkten bekannt wurde. Infarm betrieb auch selbst große vertikale Gemüseanlagen. Obwohl Wirtschaftsfachleuchte das Unternehmen 2021 mit mehr als 1 Mrd. $ bewerteten, machte das Unternehmen im selben Jahr rund 128 Mio. € Verlust. Ende 2022 zog sich Infarm aus dem europäischen Markt zurück. In den Niederlanden und in Großbritannien meldete das Unternehmen Insolvenz an.
Agrilution – Zehn Jahre versuchte das Münchener Start-up Agrilution, automatisch gesteuerte Gewächsschränke in privaten Küchen zu etablieren. Die erste Krise kam 2019. Damals platzte eine Finanzierung, nachdem Firmen wie Osram bereits 5 Mio. € investiert hatten. Die Gründer beantragten Insolvenz. Der Gütersloher Hausgerätekonzern Miele übernahm Marke, Personal und Know-how. Doch die Plantcubes, also die Schränke, in denen Kräuter und Salat wachsen, fanden zu wenig Interessenten. Im April meldete Miele, das Geschäft mangels wirtschaftlicher Perspektive einzustellen.
Farmers Cut – Farmers Cut begann 2015 als Start-up in Hamburg mit der Entwicklung eines vertikalen Anbausystems für Blattgemüse und Kräuter. Gründer Mark Korzilius realisierte ein 120 m2 großes Pflanzenmodul in einem bayerischen Edeka-Markt und investierte in eine vertikale Farm in Kuwait. Ende 2021 verkaufte er sein Unternehmen für 130 Mio. € an ein Biotechnologie-Unternehmen aus den USA. Dieses geriet kurz darauf ins Trudeln, verkaufte die Farmen an ein niederländisches Unternehmen und meldete Konkurs an. Inzwischen hat ein amerikanisches Unternehmen die Vermögenswerte übernommen.
Gemüse vom Parkdeck?
Nicolas Leschke, der Betreiber der Aquaponik-Farm in Wiesbaden, sieht sich im Vergleich zu seinen Mitbewerbern am Markt im Vorteil: „Wir nutzen soweit möglich das natürliche Sonnenlicht und die Abwärme des Supermarktes.“ Zwei Kostentreiber der vertikalen Anbausysteme hält er so in Grenzen.
Eine Patentlösung für die Ernährung der steigenden Weltbevölkerung sieht Leschke trotzdem nicht in seiner Dachfarm. „Bereits vorhandene Gebäude können nur selten nachträglich mit einer Aquaponik-Anlage versehen werden.“ Schuld sei die Gebäudestatik. „Was aber funktionieren würde, wäre eine solche Farm auf den obersten Etagen von Parkhäusern“, ist er sicher, „die werden nur selten genutzt und sind gleichzeitig sehr tragfähig.“ Seinem Gedanken der regionalen oder gar lokalen Ernährung in Ballungsräumen könnte man so zumindest ein Stück näher kommen.
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