Lebenswege

Landwirtin gründet Hilfsorganisation

Jenny Rasche packt an, wo viele wegschauen. Ihr ganzes Leben ist geprägt vom Einsatz für Roma-Familien in Rumänien.

"Hallo, ich bin Jenny, komme aus dem Kuhstall, bin 18 Jahre alt – und schwanger.“ So stellte sich Jenny Rasche 2001 an ihrem ersten Tag in ihrer Berufsschulklasse für Sozialassistenten vor. „Ich erkannte die 600 Kühe auf dem Betrieb quasi am Euter“, sagt die gelernte Landwirtin, „als mir das bewusst wurde, wurde mir klar, dass ich nicht mein Leben lang Melkerin sein wollte.“ Was sie damals noch nicht ahnte: Ihr Leben sollte sich gänzlich verändern. Im Mittelpunkt dabei: Kinder aus Roma-Familien in Rumänien.

Radikaler Neuanfang

Denn als 19-Jährige, aus Stapelburg, Landkreis Wernigerode in Sachsen-Anhalt, hatte sie auf einer Reise die Lebensumstände dieser Familien kennengelernt. Die Bilder ließen sie nicht mehr los: hungernde Menschen oder Mütter, die mit ihren Neugeborenen bei Minusgraden in Erdlöchern schliefen. So kam es, dass Jenny mit ihren Eltern und ihrer Schwester 2003 den Verein „Kinderhilfe Siebenbürgen“ gründete. Die ersten Aktionen wie „Weihnachten im Schuhkarton“ und eine Suppenküche organisierte sie von Deutschland aus.

Mit „Weihnachten im Schuhkarton“ fing alles an. Es folgten unter anderem eine Suppen­küche, eine Vorschule, acht Kinderhäuser. (Bildquelle: Rasche)

Doch das reichte Jenny nicht. Ihr wurde klar: „Um wirklich etwas zu bewegen, muss ich nach Rumänien.“ Die mittlerweile zweifache, alleinerziehende Mutter packte ihre Sachen und zog in eine Roma-Siedlung nach Sibiu ins rumänische Transsilvanien. „Die ersten zwei Jahre haben wir in einem Haus ohne Strom gelebt und auf Matratzen auf dem Boden geschlafen“, erzählt die heute 40-Jährige. Trotz der widrigen Lebensumstände verfolgte Jenny ihr Ziel, das Leben der Roma zu verbessern. Sie stellte fest, dass es mit warmen Mahlzeiten nicht getan war. Um die Spirale der Armut zu durchbrechen, brauchte es Bildung. Jenny gewann das Vertrauen der Roma, die sonst, von der Gesellschaft ausgegrenzt, meist unter sich bleiben. Sie überzeugte die Eltern, ihre Kinder in die kostenfreien staatlichen Schulen zu schicken. „Oft brauchten wir dafür rund zwei Jahre“, erzählt die temperamentvolle Frau. Anfangs ging sie selbst in aller Frühe in die Siedlungen, erinnerte ans Aufstehen und begleitete die Kinder zur Schule.

„Bildung ist der einzige Weg aus der Armut“, ist Jenny überzeugt. (Bildquelle: Alea Horst)

Um den schlimmsten Hunger zu stillen, begann sie, Familien mit Nahrungsmitteln zu unterstützen. Heute gehen Jenny und ihr 42-köpfiges Team alle zwei Wochen mit 380 Familien einkaufen und bezahlen die Lebensmittel. „Wir beraten bei der Auswahl oder helfen auch beim Rechnen“, sagt Jenny, „viele erwachsene Roma haben nie eine Schule besucht – sie können weder lesen noch rechnen.“

Der Verein begleitet und berät 380 Roma-Familien beim Lebensmitteleinkauf. (Bildquelle: Rasche)

Einfach „zu schwanger“

Jenny stellte fest, dass oft auch unbekannt ist, wie Kinder gezeugt werden. Daher geht sie mit ihrem Team in die Siedlungen und klärt auf. „Die Frauen hängen förmlich an unseren Lippen, wenn wir ihnen erklären, wie Kinder entstehen oder Verhütung funktioniert“, sagt sie. Will sich eine Frau die Spirale einsetzen lassen, organisiert der Verein den Arzttermin und übernimmt die Kosten. Doch gerade, wenn es um das Thema Familienplanung und Geburtenkontrolle geht, fühlt Jenny sich als kein gutes Vorbild: „In den vergangenen Jahren war ich einfach selbst immer ,zu schwanger‘.“ Jenny und ihr Mann Philipp, der ihr nach ­Rumänien folgte, haben 14 Kinder: sieben leibliche und sieben angenommene Roma-Kinder.

Zu ihren sieben eigenen Kindern haben Jenny und ihr Mann sieben Roma-Kinder aufgenommen. (Bildquelle: Rasche)

„Die prekären Lebenssituationen vieler Familien führen zu Gewalt – auch oder vor allem gegenüberden eigenen Familienangehörigen“, sagt Jenny. Sie erzählt von einem Familienvater, der zugab, seiner Frau ,eine gelangt‘ zu haben. „Das war stark untertrieben: Ihr fehlten auf der einen Seite alle Zähne im Kiefer“, rückt Jenny den Blick zurecht. Auch die Kinder erfahren Gewalt und Misshandlung. „96 % der Kinder, die aus ihren Familien genommen werden, sind Roma“, sagt sie. „Adoptionen sind trotz vereinfachter Rechtslage selten – niemand will Roma-Kinder haben.“ Jenny eröffnete 2014 ihr erstes Kinderhaus für eben diese Fälle. Heute betreibt sie mit dem Verein acht solcher Einrichtungen. Bis zu acht Kinder mit und ohne geistige Beeinträchtigung leben im Familienverbund zusammen. Sie haben ein Zimmer, ein Bett, Spielsachen und drei Bezugspersonen, die sich im 24-Stunden-Rhythmus mit der Betreuung abwechseln. „Uns ist klar, dass wir den Kindern nicht ihre Eltern ersetzen können“, sagt Jenny, „Kälber gedeihen bei ihren Müttern auch am besten.“

Der Ballettunterricht ist eine willkommene Abwechslung für die Kinder. Dazu fährt Jenny mit ihnen extra in ein Studio in der Stadt. (Bildquelle: Rasche)

Alle Kinder aus den Häusern gehen zur Schule. „Herausfordernd ist, wenn ein 14-Jähriger weder schreiben noch lesen kann, aber mit den Kleinen in die erste Klasse gehen soll“, erläutert Jenny. Deshalb hat sie eine Art Vorschule gegründet, die abseits der staatlichen Strukturen erste Grundlagen vermittelt.

Eine Geschichte der Diskriminierung
Die Roma sind die größte ethnische Minderheit Europas. Die Vorfahren der hier ansässigen Roma stammten aus Indien bzw. dem heutigen Pakistan. Ab dem 8. Jahrhundert wanderten sie über Persien, Kleinasien und dem Kaukasus nach Mittel-, West- und Nordeuropa. Grund dafür war kein Wandertrieb, sondern Kriege, Verfolgung, Vertreibung sowie wirtschaftliche Not. Ihre weitere Geschichte in Europa ­variiert je nach Region: Während sie in Osteuropa oft zu Leibeigenen oder Sklaven gemacht wurden, galten die Sinti, eine Teilgruppe der Roma, in Mitteleuropa als Vogelfreie (Rechtlose). Sie schlossen sich gezwungenermaßen der Gruppe der Fahrenden an.
Von den 10 bis 12 Mio. Roma in Europa leben die meisten im Osten und Südosten Europas. Nach Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftssysteme verloren sie häufiger als die übrige Bevölkerung ihre Arbeit und gerieten noch stärker in Armut.
Eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte belegte 2009, dass Roma die am stärksten diskriminierte Gruppe in Europa sind. An ihrer Situation hat sich seitdem wenig geändert.

Ausbildung statt Tagelöhner

Nach der achten Klasse endet in Rumänien die Schulpflicht. Auszubildende bekommen kein Gehalt. Mit Spenden unterstützt Jenny deshalb mehr als 50 Auszubildende und fünf Studierende mit Stipendien: „Nur so können sie später eine eigene Familie ernähren.“ Ohne Berufsqualifizierung bliebe ihnen nur ein Leben als Tagelöhner – wenn sie denn überhaupt eine Arbeit finden.

Die Kinder in der Nachmittagsbetreuung legen Beete an und kultivieren Gemüse. (Bildquelle: Rasche)

Auch Jenny und ihr Mann erhalten eine Art Stipendium. Eine Stiftung aus der Schweiz hat sie angestellt, damit sie sich voll und ganz ihren Projekten für die Roma widmen können. „Es ist unglaublich wertvoll, solche Unterstützer zu haben“, sagt sie. So war es Jenny auch möglich, parallel zu den angestoßenen Projekten Soziale Arbeit an der Universität in Sibiu zu studieren. „Kurz vor meinem Abschluss fiel auf, dass ich kein rumänisches Voll-, sondern nur ein deutsches Fachabitur hatte“, erzählt sie. Kurzerhand las sich Jenny, der seinerzeit von Lehrern empfohlen wurde, auf eine Sonderschule zu gehen, in rumänische Literatur ein, paukte Mathe, legte ihr Abitur ab und beendete 2012 ihr Studium.

Die Lebens­verhältnisse vieler Kinder in Rumänien bewogen Jenny Rasche 2003 dorthin auszu­wandern. (Bildquelle: Rasche)

Kind Nummer 15?

Die Herausforderungen werden nicht kleiner: „Um staatliche Hilfen zu erhalten, brauchen wir Fachkräfte, doch die sind nicht zu finden.“ So beschloss Jenny, Lehramt zu studieren, um künftige Mitarbeiter selbst ausbilden zu können. „Aktuell bin ich im zweiten Semester“, sagt die siebenfache Mutter, die nicht müde wird, von den traurigen Geschichten „ihrer“ Kinder zu erzählen. Da ist das kleine Mädchen, das schwerste sexuelle Gewalt in der eigenen Familie erlebte. Doch aktuell hat Jenny keinen Platz in ihren Kinderhäusern. „Mit Erlaubnis ihrer Eltern habe ich sie bei uns zu Hause aufgenommen – obwohl mein Mann und ich uns eigentlich versprochen hatten, dieses Jahr mal kein Kind ,zu bekommen‘.“ – Aber eben nur ,eigentlich‘. Denn die Schicksale der Kinder, die Jenny einst dazu bewogen, ihr Leben umzukrempeln, treiben sie noch heute um – und an.

Kinderhilfe Siebenbürgen e. V.
Die Verantwortlichen des Vereins ­arbeiten ehrenamtlich. Gemeinsam mit ihrem 42-köpfigen Team vor Ort in Rumänien setzt sich Jenny Rasche für bedürftige Menschen ein. Ihre aktuellen Projekte:
- Acht Kinderhäuser in Sibiu, in denen je acht Kinder wohnen,
- Finanzierung Mutter-Kind-Heim,
- Hilfe beim (Um-)Bau von Häusern in Romasiedlungen,
- After-School-Programm in Tichindeal: Über 200 Kinder erhal-ten Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung und die Möglichkeit, Kind sein zu dürfen.
- Stipendien für 50 Auszubildende und fünf Studierende,
- Unterstützung für 380 Familien durch Lebensmitteleinkäufe,
- Familienplanung,
- Ferienfreizeit für rund 150 Kinder.

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