Religion und Tradition
Eine Kultur der Dankbarkeit
In Hamm steht der größte südindische Tempel Europas. Dort zeigen gläubige Hindus ihre Dankbarkeit gegenüber der Göttin auf ihre ganz eigene Weise.
Schuhe an oder aus
Die Musik aus den Boxen ist scheppernd, laut und fremd. Am gegenüberliegenden Zaun hängt ein großes Plakat. Darauf: Werbung für Reiskocher und indische Schriftzeichen. Die Menschen auf den Straßen tragen farbenfrohe Saris und Gewänder, wie man sie sonst selten auf den Straßen mitten in einem westfälischen Industriegebiet sieht. Der Geruch von Räucherstäbchen und Gewürzen liegt in der Luft.
Diese Eindrücke begegnen den Besuchern des Pilgerfestes in Hamm als erstes – und zwar noch bevor er überhaupt das Gelände des Tempels durch den prunkvoll geschmückten Torbogen betreten hat. Bereits hier ziehen einige Gläubige ihre Schuhe aus und legen sie unter einem der Bäume ab. „Auf dem Gelände ist es auch in Ordnung, die Schuhe anzubehalten“, erklärt Hubertus Neuhaus, der seit fünf Jahren die Organisation des Tempelfestes nach außen übernimmt und in diesem Zusammenhang zahlreiche Gespräche mit den Behörden führt. Lediglich im Tempel selbst ist es Pflicht, die Schuhe auszuziehen. Draußen begegnet man Hindus in Schuhen, auf Socken und barfuß.
Glaubt man der Geschichte, dann ist es dem Zufall bzw. dem Schicksal geschuldet, dass der Tempel heute in Hamm steht: Der Hindupriester Arumugam Paskaran war 1985 zusammen mit seiner Frau auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Deutschland gekommen. Doch da er in der Bahn keine gültige Fahrkarte vorweisen konnte, verwies ihn der Schaffner kurzerhand des Zuges. Das war in Hamm. Für den Priester, der selbst von sich in der dritten Person spricht, war es ein Zeichen. Er beschloss, hier einen Tempel zu bauen und weihte ihn der Göttin Sri Kamadchi Ampal, der Göttin, die „die Wünsche von den Augen abliest“.
Opfergaben und Pilgeressen
So individuell wie diese Entscheidung ist auch die Kleiderwahl. Einige Männer haben nur ein Tuch um die Hüften geschlungen, andere tragen Jeans und Hemd. Die Frauen kleiden sich meist festlich mit bunten Saris oder Kleidern. Viele der Anwesenden halten Teller mit Bananen, Kokosnüssen und Räucherstäbchen in den Händen. Es sind Opfergaben für die Göttin – aus Dankbarkeit sowie um ihr Respekt zu erweisen. Einige Gläubige tragen Feuerschalen, um Dank zu sagen. Zum Beispiel, weil ihr Wunsch aus dem vergangenen Jahr in Erfüllung gegangen ist.
Hubertus Neuhaus hat die Erfahrung gemacht, dass es noch eine weitere Form der Dankbarkeit gibt. Denn jedes Jahr melden sich vor der Prozession zwei Pilger bei ihm: einer aus Frankreich, einer aus England. „Beide haben schwere Schicksalsschläge hinter sich“, erzählt der 35-Jährige, „sie wollen sich bedanken und kochen Essen für die Pilger.“ Das tun sie nicht etwa vor Ort in Hamm, wo freiwillige Helfer ohnehin bis zu 12 t Reis und eine entsprechende Menge Curry für die Pilger zubereiten. Die beiden kochen das Essen zu Hause in England und Frankreich, verpacken es in Warmhalteboxen und machen sich umgehend auf den Weg nach Hamm. „Alles aus Dankbarkeit dafür, dass die Göttin ihr Leben gerettet hat“, erklärt Hubertus Neuhaus.
Insgesamt dauert das Tempelfest zwei Wochen. Höhepunkt sind aber die drei Tage am Ende. Nach den Prozessionen am Samstag und Sonntag folgt am Montag die rituelle Waschung. Die findet nicht etwa im Ganges, sondern im Dattel-Hamm-Kanal unter einer Autobahnbrücke, nur 300 m vom Tempel entfernt, statt. Hier waschen sich die Gläubigen von ihren Sünden rein, ehe der Hauptteil des Tempelfestes endet.
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