Kommentar

Ernte zum Nachdenken

Die diesjährige Ernte ist ein Extrem für Landwirte, Lohnunternehmer sowie Vermarkter. Sie liefert Denkanstöße.

Solche krassen Bilder gibt es selten: Weizen, Triticale und Roggen wachsen am stehenden Halm aus, lagerndes Getreide sowieso. Selbst bei Raps und Ackerbohnen gibt es Auswuchs. Auch nach der langen Regenphase bleibt die Ernte durch die vielen Schauer eine Tortur. Und das Drama geht bei der Vermarktung weiter: Wo reicht die Qualität noch für Brotgetreide? Welche Partien sind Futtergetreide – zu welchen Preisen und Konditionen? Und wo bleibt nur die Biogasanlage als Verwertung – oder gar die Scheibenegge statt des Mähdreschers?

Die diesjährige Ernte ist ein Extrem für Landwirte, Lohnunternehmer sowie Vermarkter. Und sie liefert Denkanstöße:

  • Deutschland sollte die Teller-Trog-Tank-Diskussion endlich sachlich führen. Viele Kulturen, die dieses Jahr für den „Teller“ geplant waren, lassen sich jetzt nur über den „Trog“ zu menschlicher Nahrung verwerten. Gut, dass es die Nutztierhaltung gibt!
  • Gesellschaft, Politik und Lebensmittelhandel sollten behutsam bei den Forderungen nach immer höheren Auflagen für Landwirte sein. Fährt Deutschland die eigene Produktion mit überzogenen und selbst auferlegten Regeln zurück, steigt die Abhängigkeit von Importen. Dann fließen mehr Weltmarktprodukte an einen Gunststandort, der sich größtenteils selbst versorgen könnte – und diese Produkte fehlen anderen Ländern, die wirklich darauf angewiesen sind!
  • In den vergangenen Jahren war es Hitze, dieses Jahr ist es Nässe – die Wetterextreme nehmen zu. Ob und wie neue Züchtungstechniken dabei die Ernte stabilisieren können, sollte Deutschland lösungsorientiert und nicht ideologisch diskutieren. Dabei geht es vor allem um Methoden wie die Genschere CRISPR/Cas, keinesfalls um Patente.
  • Noch mehr als in der Vergangenheit sollten Landwirte Risikomanagement betreiben. Bei der Fruchtfolge und der Sortenwahl kann ein möglichst breites Spektrum die Gefahr eines Totalausfalls zumindest mindern.
  • Jetzt ist Solidarität gefragt – unter den Landwirten und zwischen Landwirten und Vermarktern. Wer die Not der Landwirte mit unmoralischen Preisgeboten für Getreide mit eingeschränkter Qualität ausnutzen möchte, sollte bedenken: Nächstes Jahr kann es ganz anders aussehen – und man ist auf die Zulieferung genau dieser Landwirte angewiesen.

Noch rollen die Mähdrescher und die Vermarktung läuft. Das hat für die Landwirte aktuell absolute Priorität. Politik und Gesellschaft dürfen aber gerne schon jetzt darüber nachdenken, was die diesjährige Ernte lehrt. Und was sie für künftige Ernten davon mitnehmen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass es in Zukunft öfter ähnlich krasse Bilder gibt.

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von Dr. Thomas Böcker, Landwirtschaftskammer NRW​

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