Mit der Zukunft kennt man sich aus in den Landkreisen Cloppenburg, Vechta, Oldenburg und Emsland. Unter Federführung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Oldenburg haben sich Wissenschaft, Verwaltung und Landwirtschaft der Region mit der Frage befasst, was passieren könnte, wenn die Bruttowertschöpfung der regionalen Landwirtschaft schrumpft.
Verschiedene Szenarien wurden entwickelt und in vielen Gesprächen diskutiert. „Transformationsszenarien der Agrar- und Ernährungswirtschaft in Niedersachsen (TRAIN)“ lautete der Titel des Projektes, dessen Abschlussstudie vor einem Jahr von der IHK Oldenburg präsentiert worden ist. Sie lief darauf hinaus,
die Akzeptanz für die Landwirtschaft zu fördern, eine strategische Raumordnung zu organisieren und Zielkonflikte zwischen Bund und Land, etwa im Baurecht zu klären.
Überraschung aus Braunschweig
Umso überraschter sind die Beteiligten nun über die vom Thünen-Institut vorgelegte Studie. „Sie ist – im Gegensatz zur TRAIN-Studie – über die Köpfe vieler Landwirte, aber auch über die Köpfe fast der gesamten Region hinweg entstanden“, kritisiert Jochen Steinkamp, der das Referat für Strategische Steuerung und Öffentlichkeitsarbeit des Landkreises Vechta leitet. „Außerdem vermittelt die Thünen-Studie zuweilen den Eindruck, als sei ein Schrumpfungsprozess in der Tierhaltung problemlos.“
Die Tierhaltung im Landkreis Vechta wie in den Nachbarregionen des Emslandes und Oldenburger Münsterlandes sei aber „ein wichtiger Teil vom Ganzen“, wie Steinkamp betont. Daran hänge eine breite Wertschöpfungskette, aus der man nicht einfach ein einziges Stück herausziehen könne.
IHK-Präsident Jan Müller: "Ein einmaliges Cluster"
Auf das „weltweit einmalige regionale Cluster“ in der nordwestdeutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft weist auch Jan Müller, Präsident der Industrie- und Handelskammer in Oldenburg. „Äußerst realitätsfremd“ ist aus seiner Sicht das Kernergebnis der Thünen-Studie, wonach eine deutliche Reduzierung der Tierhaltung in Konzentrationsgebieten ohne Wachstumsverluste erfolgen könne. Müller entgegnet, dass eine solche radikale Schrumpfung die erfolgreichen geschlossenen Wertschöpfungsketten zerstöre und zu erheblichen Einbrüchen bei Wachstum und Beschäftigung führe.
Der Oldenburger IHK-Präsident weist auch darauf hin, dass ein Beschäftigungsabbau im Agrar- und Ernährungssektor nicht automatisch zu einem Beschäftigungsaufbau in anderen Sektoren führe. Die Argumentation, die Folgen könnten durch ein verstärktes Wachstum anderer Wirtschaftsbranchen kompensiert werden, kann Müller ohnehin nicht nachvollziehen. „Mit einer solchen Sichtweise könnte die Zerschlagung jeder beschäftigungs- und flächenintensiven Branche gerechtfertigt werden.“
Mängel in der Statistik
Nicole Bramlage, Leiterin der Wirtschaftsförderung im Landkreis Vechta, weist im Gespräch mit dem Wochenblatt auf statistische Mängel der Thünen-Studie hin. So sei die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Hochschulreife falsch. Die Absolventen der Berufsbildungsschulen, die ja ebenfalls eine Hochschulreife in der Tasche haben, seien nicht mitgezählt worden.
Auch in anderen Punkten sei die Thünen-Studie „ein bisschen kurz gedacht“, kritisiert Bramlage. Sie betont, dass die nordwestdeutsche Agrar- und Ernährungsbranche ja nicht nur mit den vor- und nachgelagerten Bereichen wie Stalleinrichtern, Futtermittelhandel oder auch Vermarktung verflochten sei, sondern unter anderem auch mit der Forschung in der Region.
Die Unternehmen seien auch an internationaler Spitzenforschung im Bereich Ernährung beteiligt und befassten sich zum Beispiel sehr intensiv mit Themen wie alternative Proteinquellen, Insektenforschung oder auch Fleischersatzprodukten – „diesen Sektor der Agrar- und Ernährungsforschung können und wollen wir nicht verlieren, und wir werden ihn auch nicht einfach aufgeben“.
Weitere Stimmen zur Thünen-Studie
Sven Guericke, Vorstandsvorsitzender des Agrar- und Ernährungsforum (AEF) Oldenburger Münsterland:
"Das Agrar- und Ernährungsforum (AEF) hat sich wesentlich an der Entwicklung des TRAIN-Projektes (2022) beteiligt. Das AEF konstatiert, dass das TRAIN-Projekt und die „ReTiKo“-Studie vom Thünen-Institut nicht direkt miteinander verglichen werden können, da
– unterschiedlich untersuchte Gebietskulissen betrachtet wurden. Die ReTiKo-Studie bezieht sich auf eine wesentlich größere Gebietskulisse als die TRAIN-Studie.
– sich die TRAIN-Zahlen explizit auf die durch die Nutztierhaltung geprägte Intensivregion Weser-Ems beziehen.
– die ReTiKo-Studie bei der Betrachtung wesentliche Teile der Wertschöpfungskette ausklammert: Es fehlen Zahlen aus der Milch- und Rindfleischerzeugung, der Eierproduktion sowie Teile des vor- und nachgelagerten Agribusiness-Clusters.
– die statistischen Grundlagen, die zur Ergebnisableitung bei der ReTiKo-Studie herangezogen wurden, sich auf unterschiedliche Zeiträume beziehen.
Nach ersten Recherchen können die ReTiKo-Zahlenerhebungen nicht vollständig nachvollzogen werden. Sie korrespondieren nicht mit den offiziell verfügbaren Daten.
– unterschiedliche methodische Ansätze zu den erwarteten regionalwirtschaftlichen Auswirkungen aufgrund der reduzierten Tierzahlen angewandt wurden.
Während das TRAIN-Projekt anhand der letztverfügbaren kreisweiten Viehzählungsergebnisse und aktuellen Beschäftigungszahlen eine Prognose für die Wirtschaftsentwicklung 2030 erstellt, analysiert die ReTiKo-Studie Interviews mit Expertinnen und Stakeholder-Interviews. Es ist daher schwierig nachzuvollziehen, wie hieraus für die weitere wirtschaftliche Entwicklung normierbare Aussagen abgeleitet werden können.
Dass AEF und die Initiatoren des TRAIN-Projektes wollen in Zukunft an den TRAIN-Ergebnissen festhalten und künftige Entscheidungen zur Ausrichtung und Transformation der Branche auf Basis dieser Zahlen und in enger Abstimmung mit den Stakeholdern vornehmen."
Michael Schulze Kalthoff, Vorstand der Westfleisch SCE:
"Ist das bloße Reduzieren der Anzahl tierhaltender Betriebe in Nordwestdeutschland ein begrüßenswertes Ziel? Die klare Antwort lautet ,Nein!'.
Die der Thünen-Studie zugrunde liegenden Daten stammen aus den Jahren 2007 bis 2019 und sind mittlerweile veraltet. Gerade in den vergangenen vier Jahren haben wir so massive Veränderungen in der nordwestdeutschen Landwirtschaft gesehen wie nie zuvor. Und der oft zitierte Strukturwandel wurde an vielerlei Stellen zum Strukturbruch. Die Folge: Tausende Betriebe gaben ihre Nutztierhaltung auf. Allein die Zahl der schweinehaltenden Betriebe sank zwischen Mitte 2019 und Ende 2022 in Niedersachsen um 22 %, in NRW um 16 %.
Vor dem Hintergrund stellt sich die Frage, wie relevant und hilfreich Annahmen und Fortschreibungen sind, die auf längst überholtem Datenmaterial beruhen. Aber ohnehin ist es − gerade mit Blick auf die Nachhaltigkeit − viel wichtiger, Landwirtschaft angesichts eines weltweit weiterhin steigenden Bedarfs an tierischen Proteinen global zu betrachten.
Nordwestdeutschland ist ein absoluter Gunststandort für die Tierproduktion, der für die Versorgungssicherheit der Menschen mit hochwertigen Lebensmitteln weltweit nicht einfach massiv geschwächt oder gar aufgegeben werden darf. Die Region verfügt über sehr solide, familiengeführte Betriebe sowie stark aufgestellte Unternehmen, die ein enorm wichtiger Wirtschaftsfaktor für die gesamte Region sind.
Das bloße Reduzieren von Tierzahlen kann daher kein Ziel sein."
Dr. Dirk Köckler, Vorsitzender des Vorstandes der Agravis Raiffeisen AG:
Die Thünen-Studie skizziert ein Szenario, das für uns als Futtermittelunternehmen bereits heute spürbar ist durch den hohen Wettbewerbsdruck und sinkenden Tonnagemengen aufgrund zurückgehender Tierzahlen. Das macht die Nutztierhaltung zu einem sich stark verändernden Themenfeld, das weitere Anstrengungen in unserem Futtermittelgeschäft erforderlich macht. Der Erhalt der Veredelungswirtschaft in Deutschland steht für uns außerhalb jeder Diskussion.
Mit Blick auf die wachsende Weltbevölkerung, rund 10 Mrd. Menschen um 2050, steht fest: Wir tragen Verantwortung für eine globale und regionale Versorgungssicherheit – vor allem dann, wenn sich die Rahmenbedingungen verändern.
Unser Glück ist es, Landwirtschaft auf einem Gunststandort betreiben zu können. Diesen Standortvorteil müssen wir auch in Zukunft für nachhaltigen, innovativen Pflanzenbau und Nutztierhaltung nutzen. Denn ohne eine nachhaltige Landwirtschaft wird der ländliche Raum nicht funktionieren – das gilt auch für die in der Studie angesprochenen schweinedichten Regionen in Niedersachsen und NRW.
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