Was will ein Politikforscher Landwirten auf deren Kreisverbandstag in Haltern sagen, mögen sich die Mitglieder des WLV-Kreisverbandes Recklinghausen vergangene Woche gefragt haben? Interessiert hier nicht viel mehr, was die Landwirte unmittelbar betrifft?
Kreisverbandsvorsitzende Regina Böckenhoff zählt in ihrem Jahresrückblick einige dieser Punkte auf. Angefangen beim kürzlich vom EU-Parlament abgelehnte Entwurf zur künftigen Nutzung von Pflanzenschutzmitteln über das Ende der Borchert-Kommission bis hin zu einem nicht zufriedenstellenden Umgang mit Wölfen und praxisfernen Regelungen im Rahmen der Konditionalitäten – Stichwort GLÖZ 6 – reichte die Liste.
Die Worte von Regina Böckenhoff machten klar, Landwirtinnen und Landwirte fühlen sich bei der Entscheidungsfindung von der Politik nicht ausreichen gehört und mitgenommen. Eine Empfinden, das auch Karl-Rudolf Korte, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, bei den Wählern feststellt. Korte beschäftigt sich ausführlich damit, wie in Zeiten radikaler Umbrüche gewählt und regiert wird.
Kein „zu Hause-Gefühl“
Obwohl die Regierung zunächst gut gestartet sei – Corona-Krise gemeistert, wichtige Entscheidungen im Hinblick auf den Ukraine-Krieg getroffen – habe sie bei der Umsetzung ihrer Ideen vergessen, die Bürger mitzunehmen, sagte Korte. Er nennt das ein „zu Hause-Gefühl“ erzeugen. Das versäumt zu haben ist besonders in einer Gesellschaft fatal, die in erster Linie die Sicherheit liebt und deren Wählerinnen und Wähler im Schnitt 58 Jahre alt sind, konstatierte Prof. Korte. Das Ergebnis ist unter anderem eine fehlende Veränderungszuversicht bei Bürgern und Wählern. „Denn wir belohnen Pragmatismus nicht Ideologie“, erklärt er.
Das zeigt sich auch im Wahlverhalten. Kortes Analysen zufolge wählt Deutschland ungewöhnlich mittig. Damit wählen die Sicherheitsdeutschen, die Eindeutigkeit lieben, allerdings uneindeutig. „Das ist ein demokratischer Luxus, den man sich leisten muss und um den uns die Nachbarn beneiden.“ Die AfD sieht der Wissenschaftler in diesem Zusammenhang nach wie vor als klassische Defizitpartei. Ein Beispiel nennt Korte mit der Migrationspolitik. „Die AfD saugt bei diesem Thema den Unmut der Wähler auf. Wenn die jedoch merken und anerkennen, dass die Politik den Weg der Migrationsbegrenzung geht, wird sich das im Wahlverhalten zeigen.“
Um der AfD die Basis zu entziehen, sollten sich die demokratische Parteien mehr darum kümmern, wo die AfD verliert und daraus die Schlussfolgerungen ziehen, fordert Prof. Karl-Rudolf Korte. „Wir berichten und schauen zu sehr nach den Rändern und vernachlässigen darüber die Mitte.“
Unsicherheit bleibt
Als eine der großen Lebenslügen der heutigen Politiker- und Wählergeneration sieht der Politikwissenschaftler die Erwartung, alles könne so bleiben wie bisher. Das Gegenteil ist der Fall: „Unberechenbarkeit bleibt als Prinzip: Nur das nicht Erwartbare ist das Erwartbare“, fasste er in einem Satz den Rahmen für künftige Politik zusammen. Das hat Folgen, sagt Korte: „Mit diesem Gewissheitsschwund wird die Gesellschaft quasi ankerlos und es gibt keine sicheren Räume mehr.“ Genau die erwarten Wähler aber von der Politik – das sei das Dilemma. „Politik kann unter diesen Bedingungen Probleme nicht dauerhaft lösen.“
Umso mehr komme es darauf an, unsere Demokratie nicht als Serviceeinrichtung zu betrachten. Mit den Worten: „Zukunft passiert nicht, wir gestalten sie“, forderte der Referent die Zuhörer auf, sich politisch zu engagieren und viel häufiger klar zu machen, was Freiheit und das Recht, seine Meinung immer und überall sagen zu können, bedeuten.
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