Freunde feiern zusammen runde Geburtstage. Familie und Nachbarn nehmen Abschied beim Beerdigungskaffee. Alt und Jung klönen am Tresen. Gerade ist das alles nicht möglich. In Dörfern ohne Kneipe oder Gemeindehaus fehlt auch außerhalb des Lockdowns der passende Ort zum Feiern und Beisammensein. In Rüthen-Westereiden im Kreis Soest bleibt es hingegen eine Momentaufnahme. Denn im Februar 2019 öffnete die Netzwerkstatt für das 500-Einwohner-Dorf.
Bewohner analog und digital vernetzen
Wie der Name vermuten lässt, ist die Netzwerkstatt mehr als eine Kneipe mit Saal. Geht es nach dem Betreiber, dem Schützenverein St. Georg, soll sie die Einwohner vernetzen. Das gelingt sogar trotz verschlossener Türen. Eine Homepage flankiert den Neubau. Auf der Internetseite finden die Westereidener ein „Schwarzes Brett 2.0“. Es ist eine Mischung aus Veranstaltungskalender und digitaler Tauschbörse. „Dort sucht jemand Hilfe für den Garten“, erzählt Matthias Stratmann. „Ein anderer bietet Wachteleier an“, ergänzt André Dahlhoff. Gemeinsam mit Carsten Schmidt und Christian Witthaut sind sie die Köpfe hinter der Netzwerkstatt. Das Quartett gehört zum Vorstand des Schützenvereins.
Ein Newsletter hält die Bewohner über neue Gesuche und Gebote sowie Veranstaltungen auf dem Laufenden. Nur über die Homepage lassen sich der 70 m² große Gastraum und der 100 m² große Saal für Feiern reservieren. Sonst ist die „Netze“, wie sie im Ort mittlerweile heißt, viermal die Woche geöffnet. Wer sie betritt, sieht an der Theke und dahinter Rüthener Sandstein. Er spiegelt die Verbundenheit zur Region wieder.
Christian Witthaut dimmt das Licht. „Es gibt nur noch zwei Lichtschalter im ganzen Gebäude. Der Rest läuft ferngesteuert“, sagt er. Ein großer Touchscreen steht gegenüber der Theke. „Der funktioniert wie ein großes Tablet“, sagt André Dahlhoff und öffnet per Fingerdruck den Reservierungsplan. Den Touchscreen kann jeder frei nutzen. Wer kein Internet zu Hause hat, kann so zum Beispiel den Saal reservieren. Mancher lässt darüber Musik laufen. Kinder öffnen Spiele-Apps. Diskutieren zwei Gäste am Tresen, können sie Fragen online klären. „Auf dem Bildschirm lassen sich Infos besser zeigen als auf dem Smartphone“, sagt Matthias Stratmann.
Weder Halle noch Kneipe
Vor mehr als fünf Jahren war das alles noch Zukunftsmusik. Damals auf der Weihnachtsfeier des Schützenvereins grübelten einige Mitglieder zur späten Stunde über ein Heimathaus. Sie machten erste Skizzen auf einem Bierdeckel. In Westereiden gab es weder ein Pfarrheim noch eine Schützenhalle. Die Idee eines Gemeinschaftshauses geistert aber schon seit Jahren durch das Dorf. Meist scheiterte der Bau an Bedenken Einzelner oder am Geld.
Es herrscht aber ein reges Vereinsleben im Ort: Neben dem Schützenverein gibt es unter anderem drei Karnevalsvereine und einen Spielmannzug. Damals war noch eine Kneipe geöffnet, in der sich Vereinsvorstände und Stammtische trafen. Es war aber abzusehen, dass die Wirtin aus Altersgründen den Zapfhahn bald für immer hochdreht.
Es musste eine Alternative her. „Auf Dauer sollten die Vorstandssitzungen nicht bei mir im Wohnzimmer stattfinden. Jedes Dorf braucht außerhalb der eigenen vier Wände einen Treffpunkt“, sagt Christian Witthaut. Der 36-Jährige ist mittlerweile der erste Vorsitzende des Schützenvereines. Viele seiner Generation sind im Dorf geblieben oder nach dem Studium zurückgekehrt. Sie haben hier ihre Familien gegründet. Der örtliche Kindergarten hat mehrere Gruppen. Leerstand ist in Westereiden die Ausnahme, nicht die Regel.
Geldquelle gefunden
Der Schützenverein mit seinen mehr als 200 Mitgliedern bot sich als Träger des Projektes an. Auf der Mitgliederversammlung 2014 gab es keine Gegenstimmen, nur zwei Enthaltungen. „Vor Jahren wäre eine solche breite Zustimmung undenkbar gewesen“, erinnert sich Christian Witthaut. Das Erfolgsrezept: offene Kommunikation und ein gutes Konzept.
Nachdem der Rückhalt im Ort stand, benötigten sie Geld. Allein aus der Vereinskasse und durch ehrenamtliche Arbeit hätten sie das Vorhaben nicht stemmen können. Im Nachhinein beliefen sich die Kosten auf mehr als 350 000 €.
Auch da nutzten die vier Zugpferde die Gunst der Stunde und zapften Mittel aus dem LEADER-Programm der EU an. Parallel warben sie Geld über andere Kanäle ein. Neben Krediten starteten sie ein Crowdfounding und kassierten so 250 Spenden im Gesamtwert von mehr als 27 000 €.
Bau der Netzwerkstatt
Im Herbst 2017 begann der Bau direkt an der Hauptstraße. Neben ortsansässigen Unternehmen beteiligten sich mehr als 50 Bewohner. „Etwa 5000 Stunden ehrenamtliche Arbeit flossen in das Projekt“, schätzt André Dahlhoff.
Auch jetzt ist das Ehrenamt gefragt. Ein Team aus 60 Hobby-Wirten, im Alter von 18 bis 70 Jahren, schmeißt den Tresen. „Jeder ist maximal alle zwei Monate dran“, sagt André Dahlhoff. Pro Abend braucht es mindestens eine Person hinter der Theke.
In der „Netze“ treffen sich Mitglieder der KFD und Senioren zum Kaffee. Im Saal probt eine Line Dance-Gruppe. Sie entstand erst im Zuge der Netzwerkstatt. „Es kommen Gäste, die wären in die alte Kneipe nicht gegangen. Das Publikum ist weiblicher und jünger“, betont Matthias Stratmann. Auch in den Nachbardörfern hat sich das Angebot rumgesprochen. Dort gibt es meist keine Kneipen mehr. Jugendliche und Vereinsvorstände treffen sich nun in Westereiden. Getränkepreise halten sich Rahmen. Im Gegensatz zu einem privaten Betreiber müssen sie nur kostendeckend wirtschaften.
Doch auch Corona hinterlässt Spuren. Mit einem Hygienekonzept konnten sie wieder öffnen. Die Gäste wichen verstärkt auf die Terrasse aus. „Wir hatten Glück, dass das erste Jahr so gut lief“, sagt Christian Witthaut. Denn laufende Kosten müssen sie auch jetzt weiter bedienen.
Den Corona-Sommer haben sie hingegen genutzt, um Jung und Alt im Ort auch draußen zu vernetzen: Hinter dem Neubau findet sich ein nagelneuer Spielplatz samt Boulebahn.
Fördergeld der EU angezapft
Das Team der Netzwerkstatt hatte Glück, dass Westereiden in einer der 28 LEADER-Regionen NRWs liegt. Die Gemeinden Anröchte, Erwitte, Geseke, Rüthen und Warstein bilden die LEADER-Region „5verBund“. LEADER ist ein Förderprogramm der EU, mit dem seit 1991 innovative Projekte im ländlichen Raum gefördert werden. Folgende Schritte ging das Team, um an das Geld zu kommen:
Zunächst kontaktierten die Westereidener die Regionalmangagerinnen der LEADER-Region, Pia Weischer und Kathrin Hunstig-Bockholt. Sie prüften, ob das Projekt förderfähig sei und begleitete sie bei der Antragsstellung. Kostenkalkulation und Finanzierungsplan nahmen Gestalt an.
Vor der lokalen Aktionsgruppe (LAG) der LEADER-Region, einem Gremium aus Vertretern der Verwaltung, der regionalen Wirtschaft und des öffentlichen Lebens, präsentierten sie das Konzept. „Das war ein bisschen wie in der Sendung ,Höhle der Löwen‘“ erinnert sich Matthias Stratmann. Die Jury überzeugte das digitale Angebot. „Für ein herkömmliches Dorfgemeinschaftshaus wäre es schwieriger geworden“, sagt Pia Weischer.
Ein Jahr verging, bis der Zuwendungsbescheid für über 180 000 € seitens der Bezirksregierung Arnsberg eintrudelte. Später wurde er auf insgesamt 214 000 € aufgestockt. Aufgrund der Größe des Projektes zog sich die Bewilligung. Das hing aber nicht direkt mit LEADER zusammen. Unter anderem brauchten sie eine Baugenehmigung. „Kleinere Projekte werden binnen weniger Wochen bewilligt“, erklärt Kathrin Hunstig-Bockholt.
Danach begann der Bau. Die Westereidener gingen in Vorleistung und bekamen das Geld rückwirkend. Ausgezahlt wird es von der Landwirtschaftskammer, da es aus dem europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) stammt. Die maximale Fördersumme eines Projektes liegt bei
250 000 €.
Weitere spannende Dorfprojekte