Das Westwerk mit seiner Front aus rötlichem Bruchstein ragt wuchtig aus dem hellen Ensemble des barocken Schlosses Corvey hervor. Imposant muss es einst auf die Sachsen, erst seit wenigen Generationen Christen, gewirkt haben, als es im Jahr 885 fertiggestellt wurde – ein Leuchtturm des neuen Gottes am Weserstrand.
Ganz im Osten NRWs bei Höxter thront das Westwerk noch heute. Es ist ein europaweit einmaliges Zeugnis der Karolingerzeit. Seit 2014 darf das Westwerk sich, gemeinsam mit dem Bodendenkmal der „Civitas Corvey“, dem einstigen karolingischen Klosterbezirk, Weltkulturerbe der UNESCO nennen – das einzige in Westfalen.
2022 jährt sich der Beginn des monastischen Lebens im Weserbogen zum 1200. Mal. In Auftrag gegeben wurde das Kloster von Ludwig dem Frommen, Sohn Karls des Großen. Er errichtete es als Zeichen des Friedens mit den aufmüpfigen Sachsen.
Faszination Corvey
Am Fuß des Westwerkes stehen die Hausherren: Josef Kowalski vom Kirchenvorstand der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus und der Pfarrdechant Hans-Bernd Krismanek. Das Haus Ratibor, Eigentümer des Schlosses, überschrieb in den 1970er-Jahren Kirche, Westwerk und Friedhof der Kirchengemeinde.
Mit dabei ist auch Hubertus Grimm, Bürgermeister von Beverungen und Autor historischer Romane über Corvey. Gemeinsam beleuchten sie die Faszination der einstigen Reichsabtei.
Das Westwerk ist der nach Westen ausgerichtete erhaltene Kirchenvorbau der karolingischen Basilika, die im 30-jährigen Krieg zerstört wurde. „Ihm war einst ein Atrium vorgelagert und es hatte zunächst drei statt zwei Türme“, erzählt Josef Kowalski. Heute betritt der Besucher durch das Westwerk die barocke Kirche.
Im Herzen des Welterbes
Über eine Treppe geht es nach oben in den Johannischor. Farbige Szenen aus Homer’s Odyssee und figürliche Darstellungen prägten einst den zweigeschossigen Mittelraum des Westwerks. Erst in den 1960er-Jahren wurden die Malereien unter dem Putz entdeckt. „Man muss sich den Chor komplett farbig vorstellen“, sagt Hans-Bernd Krismanek und ergänzt: „Die Mönche nahmen antike Szenen und deuteten sie in die christliche Heilslehre um, zum Beispiel Odysseus als Retter seiner Gefährten.“
So lässt sich der griechische Held erkennen, wie er mit dem Meerungeheuer Skylla kämpft – eine Parallele zum Erzengel Michael, dem Drachentöter. Im Johannischor standen acht Statuen, vier Männer und vier Frauen. Wen sie darstellen, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren.
Hier wird deutlich, was Historiker unter „karolingischer Renaissance“ verstehen: ein Rückgriff auf die Antike im frühen Mittelalter. Das überzeugte die Welterbekommission der UNESCO und macht das Westwerk im Jahr 2014 zum 39. deutschen Weltkulturerbe.
Im ersten Jahr nach der Auszeichnung besuchten 100 000 Gäste das Weltkulturerbe, vor Corona waren es pro Jahr bis zu 80 000. „Bis 2024 soll der Johannischor barrierefrei sein“, verspricht Josef Kowalski. Dann lässt sich das „Herz des Welterbes“ per Aufzug auch für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen erreichen.
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Virtuell zum Leben erweckt
Der heute eher kahl wirkende Johannischor wird wieder farbig mit virtueller Hilfe. Eine multimediale Installation unter dem Leitwort „Von Engeln bewacht – die Himmelsstadt“ ist auf der Zielgeraden. Unter diesem Leitwort fächert sich Corveys mittelalterliche Geschichte demnächst mithilfe moderner Technologien auf.
Sie beginnt in der Erdgeschosshalle mit einem Film. Dieser bespielt eine Glaswand, die das Westwerk von der barocken Abteikirche trennt und die per Knopfdruck fast blickdicht geschaltet werden kann.
Höhepunkt dieser Großprojektion: Die Wissenschaftler lassen die untergegangene karolingische Basilika in einer virtuellen Rekonstruktion wieder auferstehen. Die Betrachter stehen an der Schwelle zu ihr und schauen dort, wo heute die barocke Abteikirche ihre Pracht entfaltet, in den ehemals schlichten, vom Sonnenlicht durchfluteten Kirchenraum.
Ort der Kaiser und Könige
Im Johannischor wird die überregionale Bedeutung des einstigen Benediktinerklosters deutlich. Mehr als 100 Mal rasteten Könige und Kaiser im Kloster. Oberhalb des Johannischors thronten sie. „Wenn die Abendsonne durch das Westwerk fiel, muss es ein magischer Ort gewesen sein“, beschreibt Josef Kowalski. Konkret wird Hubertus Grimm: „Bis etwa 1190 spielt Corvey in der ersten Liga im Reich.“ Das Kloster war autonom und hatte einen Sitz in der Reichsversammlung. Der adelige Konvent wählte seine Äbte selbst.
Von Corvey starteten christliche Missionare nach Norden, Osten und Südosten – zum Beispiel der Heilige Ansgar, Leiter der Klosterschule und spätere Apostel des Nordens. „Corvey war ein Zentrum des Glaubens und der Wissenschaft, aber auch ein Wirtschaftsunternehmen zur damaligen Landesentwicklung“, so Josef Kowalski. Es war bekannt für Bibliothek und Schreibschule. Bis zu 100 Mönche lebten dort nach den Regeln des Heiligen Benedikt.
Die der Abtei vorgelagerte Stadt Corvey überlebte das Mittelalter nicht. „Sie war etwas größer als das damalige Höxter und als Gegengewicht zu der selbstbewusster werdenden Siedlung errichtet worden“, erklärt Hubertus Grimm. Sie wurde 1265 vom Paderborner Bischof zerstört und nie wieder aufgebaut.
Zäsur im Hochmittelalter
Mit der Dynastie der Staufer im Hochmittelalter schwand die überregionale Bedeutung Corveys. Die Unmittelbarkeit als Fürst- und Reichsabtei konnte es aber bis zur Säkularisation 1803 halten. Dabei war sein Territorium überschaubar: in etwa die heutige Stadt Höxter und umliegende Ortschaften plus verstreute Gebiete im Nordwesten. „Als Reichsabtei sollte es sich selbst versorgen können, daher bekam es Schenkungen wie Meppen oder Marsberg“, so Hubertus Grimm. Corvey blieb ein typischer Kleinststaat im Flickenteppich, der sich Heiliges Römisches Reich nannte.
Der wirtschaftliche und kulturelle Niedergang setzte sich bis zum 30-jährigen Krieg fort. „Große Zerstörungen und ein dezimierter Konvent in diesem Krieg brachten Corvey fast den Todesstoß“, sagt Josef Kowalski.
Erst mit dem Münsteraner Bischof Christof von Galen als Administrator nach den Wirren des Krieges ging es wieder aufwärts. Das barocke Kloster samt einer neuen Kirche entstand. Im Jahr 1793 wurde die Reichsabtei sogar noch zum Fürstbistum umgewandelt.
Das Westwerk hingegen fiel in einen Dornröschenschlaf und verkam zur Lagerstätte. Ein Glücksfall für die Gegenwart. Denn so erhielt es seine Ursprünglichkeit und strahlt wie vor über 1000 Jahren als Welterbe über die Region hinaus.
Leuchtturm der Christenheit
„Wo der Himmel die Erde berührt“ lautet das Motto des Jubiläums in Corvey. Die Kirchengemeinde feiert die Gründung über ein Jahr lang parallel zur Landesgartenschau in Höxter. Auftakt ist der Festakt am Sonntag, 25. September, im Kaisersaal mit einleitendem Wortgottesdienst und Besuch des Bundespräsidenten. Mit einer kirchenmusikalischen Vesper am 3. Oktober und einer geführten Wanderung auf Corveys Spuren in Höxter am 22. Oktober geht es weiter. Diese Programmpunkte gehören zu den mehr als 30 Veranstaltungen bis in den November 2023.
Die Welterbestätte ist von Anfang April bis November täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt für Schloss, Westwerk und Kirche kostet 12 €. Nur für das Westwerk und die Kirche samt Friedhof zahlen Besucher 4 €.
welterbewestwerkcorvey.de
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