Mit müden Augen und zerwühlten Haaren vor dem Spiegel stehen, die Zahnbürste gezückt: Das ist Alltag in deutschen Badezimmern, zumindest heute. Doch die alltägliche Zahnhygiene ist noch gar nicht so lange selbstverständlich. „Das erste Mal die Zähne geputzt habe ich mir im Teenageralter“, erinnert sich Hanne Große-Kleimann. Sie ist auf einem Hof in Emsdetten im Kreis Steinfurt aufgewachsen und heute 75 Jahre alt. Ihre Kindheit und Jugend fand also in den 1940er- und 1950er-Jahren statt. Hygiene und ärztliche Versorgung hatten einen anderen Stellenwert als heute. „Bei uns aus der Familie hatte nur meine Großmutter eine Zahnbürste“, erzählt Große Kleimann. „Die putzte sich ihre Zähne allerdings mit Kernseife, das hat uns nicht besonders gereizt.“
Bemüht ums Putzen
Die Familie aus Emsdetten war damals keinesfalls ein Einzelfall. In einem Wochenblatt-Artikel aus dem Jahr 1967 heißt es: „Auch bei uns (in Deutschland) bemühen sich seit über 10 Jahren verantwortliche Persönlichkeiten der Gesundheits- und Schulbehörden um das regelmäßige Zähneputzen.“ Dafür erhielten Schulkinder in einigen Bundesländern eine Grundausstattung zur Zahnpflege und Hinweise zur Benutzung von ihren Lehrern. „Aber der Erfolg entspricht noch immer nicht den Bemühungen“, heißt es abschließend in dem Artikel.
Damals war es ebenfalls nicht üblich, als Einzelperson jedes Jahr zum Zahnarzt zu gehen. Dafür wurden 1949 „Gruppenprophylaxen“ in Schulen eingeführt. Auch Große Kleimann erinnert sich an den Schulzahnarzt: „Mir sagte der Arzt immer, dass ich gute Zähne hatte – obwohl ich nie geputzt habe.
Was kommt, das geht
Auch fern des Zahnarztes erinnert sich Große Kleimann nicht an Vorsorgeuntersuchungen. Zum Arzt ging man erst, wenn man wirklich krank war. „Unsere Devise lautete: Was von selbst kommt, geht auch selbst wieder“, sagt die 75-Jährige. Das galt natürlich nicht für Notfälle. Als sie klein war, verbrannte sich Große Kleimanns Mutter schwer. Wie immer, wenn das Geschirr gespült werden musste, erhitzte sie Wasser in einem großen Topf auf dem Kohleherd. Auf dem Weg zur Spülschüssel, mit dem heißen Wasser in den Händen, stürzte sie. Ihr Gesicht und Teile des Oberkörpers waren verbrannt. Sie musste schnell ins Krankenhaus. Große Kleimanns besaßen allerdings kein Auto. „Mein Vater schnappte sich kurzerhand meine Mutter und fuhr mit ihr hinten auf dem Motorrad zum einige Kilometer entfernten Krankenhaus“, erzählt Große Kleimann. Was genau die Ärzte dort gegen die Verbrennungen taten, weiß sie nicht mehr. Dafür erinnert sie sich daran, dass es als bewährtes Hausmittel galt, Mehl auf frische Verbrennungen zu geben.
Noch heute hält sich das vermeintliche Wissen, obwohl Fachleute immer wieder eindringlich vor dem Bestäuben von Brandwunden mit Mehl warnen.
Ab ins Krankenhaus!
Als Neunjährige fiel Große Kleimann beim Spielen auf ihre Schulter und brach sich das Schlüsselbein. Gemeinsam mit ihrer Mutter fuhr sie mit dem Bus ins Krankenhaus. Die Krankenpflegerinnen gipsten ihr den Arm. Sie wurde stationär aufgenommen – für ganze drei Wochen. Zum Vergleich: Heutzutage wird ein simpel gebrochenes Schlüsselbein ambulant behandelt, indem es in einer Schlinge fixiert wird. Ist der Bruch komplizierter, folgt eine OP. Doch auch nach einer solchen wird der Patient in der Regel nach etwa zwei Tagen entlassen.
Große Kleimann machte der lange Krankenhausaufenthalt 1949 jedoch nichts aus – im Gegenteil, sie hat ihn in guter Erinnerung. „Anders als die anderen sieben Kinder musste ich nicht im Bett bleiben“, erzählt Große Kleimann. Deshalb durfte sie die Krankenpflegerinnen häufig begleiten, zum Beispiel in die große Waschküche. „Das war etwas Besonderes“, erinnert sich die 75-Jährige.
Körper vs. „Dr. Google“
Rückblickend betrachtet hat Große Kleimann das Gefühl, dass es vor 70 Jahren selbstverständlicher war, seinem eigenen Körper nachzuspüren, wenn man krank war. „Wir hatten aber auch keine Möglichkeit, uns zu informieren, außer beim Arzt selbst“, erzählt sie.
Bei einer Studie von Bitkom aus dem Jahr 2022 gaben 43 % der Befragten in Deutschland an, schon mal auf einen Arztbesuch verzichtet zu haben, weil sie ihre Symptome stattdessen im Internet suchten. Sie behandelten sich daraufhin teilweise selbst.
Fernab der Informationsbeschaffung ist Hanne Große Kleimann glücklich darüber, dass heute manches anders ist als früher. „Ich bin extrem froh, dass niemand mehr Schmerzen einfach ertragen muss und es passende Medikamente gibt“, sagt Große Kleimann. Weitere Errungenschaften: Im Hause Große Kleimann ist mittlerweile eine Zahnbürste eingezogen – und statt Kernseife Zahnpasta.
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