Fünf Jahre ist der Unfall her: Ute Grell wollte abends den Müll rausbringen. An einer Kante blieb sie mit dem Fuß hängen und landete ungebremst auf dem Gesicht. „Ich konnte mich plötzlich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen“, erinnert sich die 68-Jährige. Die spätere Diagnose lautet: Tetraplegie. Bei dieser besonderen Art der Querschnittslähmung sind neben den Beinen auch die Arme, die Hände und der Rumpf betroffen. Im Fall von Ute Grell handelt es sich um die sogenannte inkomplette Form, bei der eine Restmotorik und ein Restgefühl geblieben sind.
Ohne Unterstützung nichts erledigen
In den vergangenen Jahren hat Ute Grell hart daran gearbeitet, ihre Hände trotz der weitreichenden Bewegungsunfähigkeit wieder so weit einsetzen zu können, dass sie beispielsweise durch Wischen über das Smartphone-Display Nachrichten verfassen kann. Im täglichen Leben kann sie jedoch ohne Unterstützung nichts erledigen – egal, ob es ums Anziehen, ums Essen, die Körperpflege oder um Haushalt und Garten geht. Hinzu kommen dauerhafte Schmerzen.
„Wenn ich Hilfe brauche, dann sage ich das. Übergriffigkeit kann ich nicht leiden“, sagt Ute Grell ganz klar. Wenn sie beispielsweise die Pflegekraft bittet, ihr Shampoo auf die Hand zu geben, möchte sie nicht, dass sie ihr gleich die Haar shampooniert. „Das ist mein Bereich. Das kann ich selbst.“
Nur Grund zum Jammern? Nein!
Man sollte meinen, dass Ute Grell den ganzen Tag nur Grund zum Jammern hat. Aber so ist es nicht. „In meiner beruflich aktiven Zeit als Kammerberaterin habe ich mich wenig um mich selbst gekümmert, hatte vor Jahren auch einen Burn-out. Heute kann ich es genießen, mit mir allein zu sein. Ich bin als Mensch weniger oberflächlich und schaue genauer hin.“ Um mit der Situation ihren inneren Frieden schließen zu können, gibt es für sie jedoch verschiedene Voraussetzungen, über die sie in der vergangenen Woche beim Kreislandfrauentag Lippe im Kurtheater Bad Meinberg sprach. Für sie ist dabei klar: „Ich bin selbst für mein Glück verantwortlich – nicht die anderen.“ Mit viel Ausdauer und Ehrgeiz hat sie sich neue Freiräume geschaffen.
Lieb Gewonnenes loslassen
„Um glücklich sein zu können, muss ich lieb Gewonnenes loslassen. Beispielsweise haben mein Mann und ich 14 Jahre lang leidenschaftlich Tango getanzt. Zwei Tage nach meinem Aufenthalt in der Klinik habe ich alle meine Tango-Kleider einer Freundin von mir geschenkt. Das war brutal! Aber warum sollte ich es mir antun, die Sachen immer wieder anzuschauen? Gleichzeitig war es mir wichtig, dass mein Mann weitertanzt.
Und auch ich habe die Tür nicht komplett zugeschlagen. Ich kann nicht von unseren Freunden erwarten, dass sie alle immer nur zum Kaffeetrinken zu mir kommen. Manchmal fahre ich daher mit meinem Mann zu einem Tanzabend und unterhalte mich am Rande mit unseren Freunden.“
Neues gewinnen, sich Ziele setzen
„Elf Mal pro Woche habe ich Physiotherapie. Danach bin ich jedes Mal erschöpft. Ich könnte mich danach nur noch ausruhen, abends noch einen Tee mit meinem Mann trinken und dann ins Bett gehen. Aber das möchte ich nicht. Das Leben bietet mir mehr. Dadurch, dass ich Aufgabenbereiche wie den Haushalt und den Garten abgeben musste, habe ich Platz für Neues. Ich verbringe viel mehr und intensiver Zeit mit Freunden, gebe Nachhilfe und bin im Vorstand vom Behindertenverein sowie im städtischen Behindertenbeirat aktiv. Ich kümmere mich um unsere Finanzen, plane unsere Urlaube. Ich freue mich wahnsinnig auf den Besuch eines großen Konzertes, den ich selbst organisiert habe. Mein nächstes langfristiges Ziel für meine Zukunftssicherheit ist es, mir schon jetzt ein Pflegeheim selbst auszusuchen.“
Frau und Partnerin sein
„Ich lege großen Wert darauf, mich äußerlich nicht gehen zu lassen und gepflegt auszusehen. Auch mich mal schminken oder mir die Zehennägel lackieren zu lassen, tut mir als Frau gut. Und ich finde es auch für meinen Mann wichtig. Körperkontakt ist für mich sehr schwer geworden. Berührungen bereiten mir Schmerzen. Und ich kann meinen Mann oder mein Enkelkind nicht einmal streicheln, da ich meine Hand nicht flach hinlegen kann. Mit einer Faust kann man nicht streicheln. Aber mein Mann und ich können bewusst Zeit miteinander verbringen und liebevoll miteinander umgehen. Manchmal muss er mir helfen, auf die Toilette zu gehen. Wenn er mich wieder angezogen hat, nehmen wir uns in den Arm. In diesem Moment werde ich von der pflegebedürftigen Person wieder zu seiner Frau.“
Andere nicht überfordern
„Ich habe zusätzlich zu meinen professionellen Assistenten, wie Physiotherapeuten und Pflegern, ein privates Netzwerk aus etwa 25 Freunden, Nachbarn und Familienmitgliedern aufgebaut, die im Alltag helfen, die mir beispielsweise Abendbrot machen oder mich von der Therapie abholen. Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass es ihnen gut geht und ich sie nicht überfordere. Ganz oben auf der Liste steht mein Mann. Ich sorge dafür, dass er regelmäßig frei hat, und organisiere für diese Zeit selbst meine Betreuung. Und ich schaue, wem ich welche Aufgabe zumuten kann. Personen, die ein Problem mit Nacktheit haben, bitte ich beispielsweise nicht, mit mir Schwimmen zu gehen.“