Morgens pünktlich aufstehen, zur Schule gehen, Mitschüler treffen, sich verabreden – all das findet endlich wieder annähernd so statt wie vor der Corona-Pandemie. Oder doch nicht? Es mehren sich Hinweise von Lehrern, Eltern und Schülern, dass längst nicht alles in Ordnung ist. Inzwischen belegen auch Studien, dass psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie zugenommen haben, sagt Paul Mangel, Leiter der Schulpsychologischen Beratungsstelle des Kreises Steinfurt. Auch Anfragen an die Beratungsstelle haben seit dem Lockdown erheblich zugenommen.
Angst vor Lernrückstand
Woran liegt das? „Der Lockdown, eigentlich eine Schutzmaßnahme, hat Probleme, die vorher schon da waren, verstärkt“, sagt Paul Mangel. Die Schülerinnen und Schüler hatten plötzlich keinen festen Tagesablauf mehr. Sie mussten sich weitgehend selbst organisieren. Damit kamen nicht alle gut zurecht.
Hinzu komme die Angst, dass Lücken im Lehrstoff bleiben. Das sei vor allem an Gymnasien festzustellen, da hier der Druck durch das Curriculum größer sei als an anderen Schulformen. Vor allem bei Schülerinnen und Schülern älterer Jahrgänge beobachtet der Diplom-Psychologe die Sorge, den Anschluss zu verpassen.“
{{::tip::standard::Hier gibt es Hilfe
Erste Ansprechpartner bei psychischen Problemen von Schülerinnen und Schülern sind Schulsozialarbeiter oder die Beratungslehrer an den Schulen. Darüber hinaus bieten Erziehungsberatungsstellen oder auch schulpsychologische Beratungsstellen Hilfe an. Diese gibt es in NRW in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt. Die schulpsychologischen Beratungsstellen stehen Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie auch Lehrkräften beratend zur Seite.
Besteht der Verdacht auf eine psychische Erkrankung, sollten sich die Betroffenen an einen Kinder- und Jugendpsychologen wenden. Allerdings sind die Wartezeiten hier lang. In der Zwischenzeit können die genannten Beratungsstellen unterstützend Hilfe leisten.::}}
Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen
Von solchen Beobachtungen erzählt uns auch eine Lehrerin, die als die Oberstufenkoordinatorin an einer Schule im Kreis Steinfurt arbeitet. Schwierigkeiten, im Schulalltag zurechtzukommen, stellt sie vor allem bei den Elftklässlern fest, die von einer Realschule in die gymnasiale Oberstufe gewechselt haben. „Bis zu ihrem Abschluss in der 10. Klasse mussten sie funktionieren“, sagt sie. Aber danach klappt das offensichtlich nicht mehr. „Einige sind wie gelähmt“, stellt sie fest. In Gesprächen hört sie häufig die Sorge, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Zudem falle es auffallend vielen neuen Schülerinnen und Schülern schwer, mit Mitschülern und Lehrern in Kontakt zu kommen und Vertrauen aufzubauen.
Die Lehrer versuchen, den Jugendlichen so gut es geht zu helfen. „Aber wir sind keine Psychologen“, schränkt die Lehrerin ein. Mehr Schülerinnen und Schüler als vor der Pandemie würden professionelle psychische Hilfe benötigen, einige von ihnen warten bereits auf einen Therapieplatz.
Bestehende Probleme wurden verstärkt
Häufig beobachtete Folge solcher belastenden Situationen sind Essstörungen, Ängste und Depressionen, sagt Paul Mangel. Voraussetzung dafür sei aber ein entsprechender Nährboden. Er meint damit, dass die betroffenen Jugendlichen meist schon vorher Probleme hatten. Aber erst durch die besondere Situation der Pandemie treten diese jetzt deutlich hervor. „Die durch den Lockdown entstandenen Lücken im Lehrstoff sind für jeden eine Herausforderung. Um das zu meistern, ist es wichtig, an sich selbst zu glauben.“ An diesem Selbstvertrauen mangelt es den Betroffenen.
Eltern können Resilienz der Kinder fördern
Resilienz heißt hier das Schlüsselwort. Sie bezeichnet die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen. Eltern können die Resilienz ihrer Kinder fördern, indem sie ihr Selbstvertrauen stärken. Paul Mangel spricht in dem Zusammenhang von „unterstützen statt beschützen“. Eltern sollten Kinder nicht vor jeder schwierigen Situation bewahren. Besser sei es, wenn sich die jungen Leute einer Herausforderung stellen. Haben sie diese gemeistert, stärkt diese Erfahrung das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Dann sind sie auch für zukünftige Krisen besser gerüstet.
Während also einige Schüler mit den Herausforderungen der Pandemie gut zurechtkommen, gehen andere in eine Vermeidungshaltung. „Das führt so weit, dass manche nicht mehr zur Schule gehen wollen“, sagt Paul Mangel. In solchen Fällen rät er den Eltern, für das Kind da zu sein und Verständnis zu zeigen. Das bedeutet aber nicht, dass sie es in der Schulverweigerung unterstützen sollten. Vielmehr geht es darum, Tagesstrukturen wiederherzustellen und mit dem Jugendlichen über die Gründe für sein Verhalten zu sprechen. Sie sollten ihn motivieren, sich dem Problem zu stellen. Gegebenenfalls sollten sie sich professionelle Hilfe holen.
Soziales Feedback fehlte während des Lockdowns
Nicht immer geht es jedoch um schulische Schwierigkeiten. In der Pandemie hat das soziale Miteinander in besonderer Weise gelitten. Das Training sozialen Verhaltens fehlte im Lockdown fast allen Menschen. Für Jugendliche können die Folgen aber besonders schwerwiegend sein, denn sie befinden sich in einer wichtigen sozialen Lernphase, erklärt Paul Mangel. Sie fragen sich: „Wie komme ich bei anderen an?“ Unter normalen Umständen bekommen sie täglich Rückmeldungen ihrer Mitmenschen. „Dieses Feedback fehlte lange Zeit“, sagt der Experte.
Als Kontakte plötzlich wieder möglich waren, fühlten sich viele junge Menschen unsicher. „Die anderen denken, ich sei komisch.“ Diesen Satz hört der Psychologe gerade häufig in seinen Beratungen. „Dieses Gefühl, komisch zu sein, kann umso mehr wachsen, je weniger Feedback ich bekomme“, erklärt er. Auch deshalb sei es wichtig, Kontakte jetzt nicht zu scheuen. Soziales Verhalten muss trainiert werden. Das geht besonders gut in der Schule.
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