Jannik hatte seinen Plan fürs Leben fertig. Er wollte Landmaschinenmechatroniker werden, in seiner Heimatstadt Freren im Emsland bleiben, hier vielleicht eine eigene Werkstatt eröffnen. „Wenn ich an Jannik denke, sehe ich ihn in seiner Arbeitskleidung vor mir“, sagt seine Mutter Waltraud Dahm. Sie erzählt uns von dem Tag, an dem sie ihren Sohn gehen lassen musste.
Es ist ein Donnerstag im Oktober 2020. Jannik hat an dem Tag Berufsschule und ist gerade losgefahren. Kurz darauf geht der Pieper seines Vaters, der ebenso wie Jannik bei der Freiwilligen Feuerwehr ist. Da Ferdinand Dahm an dem Tag beruflich unterwegs ist, meldet seine Frau ihn für diesen Einsatz ab. Dabei sieht sie, dass es einen Autounfall gegeben hat.
Hirntod - eine unbegreifliche Diagnose
Kurze Zeit später klingelt es an der Tür. Davor stehen zwei Polizisten und eine Notfallseelsorgerin. „Ich wusste sofort, was los ist, und wollte sie nicht reinlassen“, erzählt die Mutter. Die Polizisten erklären ihr, dass Jannik einen schweren Unfall hatte und mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus nach Meppen geflogen worden ist.
Zusammen mit der Notfallseelsorgerin fährt sie zum Krankenhaus. Lange Zeit sitzt sie auf dem Flur und kann nur warten. Schließlich kommt ein Arzt zu ihr und sagt den folgenschweren Satz: „Ihr Sohn ist hirntod.“ Begreifen kann Waltraud Dahm das in dem Moment nicht. „Da war nur eine kleine Schramme im Gesicht“, beschreibt sie, wie sie Jannik gemeinsam mit ihrer Tochter Kristin auf der Intensivstation vorgefunden hat. „Ich habe ihm gesagt: ,Steh auf! Was machst du?'“ Zu diesem Zeitpunkt ist die erste Hirntoddiagnostik bereits abgeschlossen. Aber er liegt doch da, sein Herz schlägt.
Entscheidung über die Organspende braucht Zeit
Am Nachmittag trifft endlich auch Janniks Vater ein. Inzwischen hat die zweite Diagnostik den Hirntod bestätigt. „Die Ärzte erklärten uns, dass es zwei Möglichkeiten gibt: die Geräte jetzt abschalten – oder eine Organspende“, erinnert sich die 52-Jährige.
Diese Entscheidung kann Waltraud Dahm so schnell nicht treffen. Sie braucht Zeit. „Wir haben die ganze Nacht bei Jannik gesessen“, sagt die Mutter. Auch seine Freundin Elin und sein bester Freund kommen zu ihm. Am Morgen geht die Familie in die Krankenhauskapelle.
Gesetzeslage in Deutschland
Derzeit gilt in Deutschland die Entscheidungslösung. Das bedeutet, das eine Organspende grundsätzlich nur dann in frage kommt, wenn der mögliche Spender zu Lebzeiten eingewilligt hat oder seine nächsten Angehörigen zustimmen. Zur Diskussion steht die Widerspruchslösung. Diese sieht vor, dass jeder prinzipiell Organspender ist, der nicht ausdrücklich widerspricht.
Am 1. März 2022 ist das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft vom 16. März 2020 in Kraft getreten. Es sieht unter anderem die Einrichtung eines bundesweiten Online-Registers vor. Dort sollen Bürger eine Erklärung abgeben können, ob sie Organe spenden möchten oder nicht. Berechtigtes Krankenhauspersonal soll in dieses Portal einsehen und Erklärungen abrufen können. Das Online-Register wird voraussichtlich frühestens Ende 2023 Betrieb gehen.
Es ist die schwerste Entscheidung ihres Lebens, die sie jetzt treffen muss. „Was wäre, wenn er selbst ein Organ bräuchte“, denkt seine Mutter. Jannik hat keinen Organspendeausweis. Über das Thema hat sie vorher mit ihm nur einmal ganz kurz gesprochen. „Was soll ich dann noch damit“, hatte er flapsig geantwortet.
Die Ärzte setzen sie nicht unter Druck. Sie machen der Familie aber klar, dass die Zeit drängt. Je früher sie zu einer Entscheidung kommen, umso besser.
Den Ausschlag gibt schließlich, dass Jannik mit Leib und Seele Feuerwehrmann war. Er wollte Leben retten. Die Familie ist sich deshalb sicher, dass eine Organspende in seinem Sinne ist. Am Freitag morgen willigen sie in die Organspende ein.
Würdevolle Behandlung
Danach folgt alles einem vorgeschriebenen Ablauf. Zunächst wird die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) informiert. Vormittags trifft eine Ärztin der DSO in Meppen ein. Diese Ärztin nimmt sich Zeit für die Familie, erklärt das weitere Vorgehen und beantwortet offenen Fragen. „Sie war bis zur Operation für uns da“, sagt Waltraud Dahm. Es folgen eine Reihe von Untersuchungen. Proben werden genommen und die Ergebnisse an Eurotransplant weitergeleitet.
Die ganze Zeit über können Waltraud Dahm, ihr Mann, Kristin und seine Freundin Elin bei Jannik sein. „Er wurde sehr würdevoll behandelt und liebevoll gepflegt“, schildert die Mutter.
Der schlimmste Moment
Am Samstag morgen dann kommt der Moment, als sich seine Familie von ihm verabschieden muss. Jannik muss zur Organentnahme in den OP geschoben werden. „Das war der schlimmste Moment. Sein Herz hat ja noch geschlagen“, sagt Waltraud Dahm und unterdrückt die Tränen.
Nach der Organentnahme wird Jannik in den Abschiedsraum des Krankenhauses gebracht. Dort kann sich die Familie in Ruhe von ihm verabschieden. „Man hört so viele Schauergeschichten über die Organentnahme. Deshalb hatte ich zunächst Angst ihn zu sehen. Aber Jannik lag so schön da, man sah ihm nichts an“ erzählt seine Mutter. Welche Organe entnommen worden sind, weiß die Familie zu dem Zeitpunkt nicht. Sie wurden jedoch gefragt, ob sie später Informationen über die Organempfänger bekommen möchten. Sie stimmen zu.
Zahl der Organspenden sinkt
Die Zahl der Organspenden ist laut DSO Anfang dieses Jahres massiv zurückgegangen. Demnach wurden im ersten Quartal 2022 29 % weniger Organe gespendet als im Vorjahreszeitraum.
176 Spender gaben 562 Organe. Im Jahr 2021 hatten im ersten Quartal 249 Spender 778 Organe gespendet. Dem gegenüber stehen rund 8500 Personen, die auf ein Organ warten.
Briefe voller Dankbarkeit
Anfang Januar 2021 kam ein Schreiben von der DSO. Darin hieß es, dass fünf Personen im Erwachsenenalter erfolgreich transplantiert wurden. Sie haben die linke bzw. die rechte Niere, die Lunge, die Leber oder das Herz von Jannik erhalten. Alle Empfänger waren schon seit Jahren krank und standen zum Teil lange auf der Warteliste.
„Als der Brief kam, haben wir geweint. Da war uns bewusst, dass wir richtig entschieden haben. Jannik hat fünf Menschen das Leben gerettet“, sagt Waltraud Dahm. Etwas später kam ein Brief der Frau, die eine Niere bekommen hat. Sie drückte ihre große Dankbarkeit für das großartige Geschenk aus. „Die Niere ihres Angehörigen ist mir im wahrsten Sinne sehr nah“, schrieb sie.
Ganz besonders bewegt hat die Familie jedoch der erste Brief der Frau, die Janniks Herz bekommen hat. Sie sei mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen, schrieb die junge Frau. Mehrere Operationen hatte sie bereits hinter sich. Seit Sommer 2020 ging es ihr zunehmend schlechter, sie stand seit Anfang Oktober auf der Warteliste mit höchster Dringlichkeit für eine Organtransplantation. „Ich hatte Angst es nicht zu schaffen“, heißt es in dem handschriftlich verfassten Brief. Nie hätte sie dafür gebetet, dass jemand für sie sterben müsse. Sie nennt den Spender ihren Held. „Ich werde so sehr aufpassen auf unser Herz.“
„Der Brief war wie ein Gruß aus dem Himmel“, beschreibt Waltraud Dahm. Er hat ihr gezeigt, dass ein Teil von Jannik weiterlebt. Später hat es weitere Briefwechsel mit der Empfängerin gegeben. Einen direkten Kontakt darf es nicht geben, das ist in Deutschland gesetzlich geregelt. Die Briefe gehen immer über die DSO. Sie kontrolliert auch, ob der Inhalt den Vorgaben entspricht und nichts über die Identität von Spender oder Empfänger verrät.
Zur DSO hat Familie Dahm weiterhin einen guten Kontakt. Über die Organisation werden regelmäßig Angehörigentreffen organisiert. „Darüber sind wertvolle Bekanntschaften entstanden“ sagt Waltraud Dahm.
Ein Ort zum Trauern
Auf dem Friedhof, direkt gegenüber von Janniks Grab, ist vor einigen Jahren in einer 72-Stunden-Aktion ein Platz zum Verweilen entstanden. Dort hat die Landjugend jetzt eine Bank aufgestellt. „Wir gehen oft dorthin, manchmal mit Kaffee und Kuchen, oder auch auf ein Bier mit Freunden“ erzählt Waltraud Dahm. Hier sind schon viele Tränen geflossen, aber auch schöne Erinnerungen geteilt worden.
Einsatz für die Organspende
Die Entscheidung, Janniks Organe für die Spende freizugeben, war die schwierigste im Leben von Waltraud Dahm. Es hätte ihr geholfen, sicher zu wissen, wie Jannik entschieden hätte. Deshalb ist es ihr ein großes Anliegen, dass Menschen sich frühzeitig mit dem Thema auseinandersetzen.
Sie selbst ist gewissermaßen zu einer Botschafterin für Organspende geworden. Sie geht beispielsweise in Berufsschulen und erzählt dort von ihren Erlebnissen. „Jannik war nicht mehr zu helfen. Aber die Empfänger können weiterleben. Uns ist wichtig, dass man sich zu Lebzeiten überlegt, ob man Organspender sein will, damit nicht andere die Entscheidung treffen müssen“, sagt sie.
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