Im Gehirn von Friedrich Brunkhaus wuchert ein Tumor. Er drückt auf den Sehnerv des 87-Jährigen, sodass er nur noch eingeschränkt sehen kann. Die Ärzte erklären den Angehörigen, dass der Tumor weiter wachsen wird. In absehbarer Zeit wird es zu weiteren Einschränkungen kommen. Es ist zwar möglich, den Tumor operativ zu entfernen, aber welche Folgen ein solcher Eingriff haben wird, kann niemand vorhersehen. Die Entscheidung für oder gegen die Operation liegt bei den Angehörigen, denn Friedrich Brunkhaus ist dement.
Auch wenn diese Geschichte erfunden ist, stehen doch viele Patienten und deren Angehörige vor ähnlich schwierigen Entscheidungen. Eine große Hilfe ist es, wenn der Patient eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht hat. Manchmal ist aber auch dann nicht ganz klar, ob zum Beispiel ein in der Verfügung beschriebener gesundheitlicher Zustand bereits erreicht ist oder noch nicht.
Im Sinne des Patienten entscheiden
Bei solchen Fragen steht Patienten, Angehörigen sowie Ärzten und Pflegenden in vielen Krankenhäusern ein Klinisches Ethikkomitee beratend zur Seite. Es besteht aus Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen, die zum Teil speziell für diese Aufgabe geschult wurden. Wichtigster Grundsatz bei der Beratung: „Es soll zum Wohle und im Sinn des Patienten entschieden werden“, erklärt Dr. Petra Köster-Oehlmann, Chefärztin der Anästhesie und operative Medizin und stellvertretende Vorsitzende des Ethikkomitees am Evangelischen Krankenhaus (EVK) Lippstadt.
Angehörige seien oft zwiegespalten, wie sie entscheiden sollen, erzählt Annette Chrzanowski, Stationsleitung und Vorsitzende des Ethikkomitees am EVK. Einerseits möchten sie, dass alles medizinisch Machbare für den Patienten getan wird. Andererseits fragen sie sich, was sinnvoll ist und was dem Willen ihres Angehörigen entspricht. „Wir versuchen dann, gemeinsam mit allen Beteiligten eine Lösung zu finden“, beschreibt sie eine Aufgabe des Ethikkomitees.
Dabei kann es um ganz unterschiedliche Entscheidungen gehen. Soll ein Patient über eine PEG-Sonde künstlich ernährt werden? Oder: Soll eine Chemotherapie, die der Patient schlecht verträgt, weitergeführt werden? Es sind aber nicht nur Entscheidungen am Lebensende, mit denen sich das Komitee befasst. Dr. Köster-Oehlmann berichtet zum Beispiel von einer schwangeren Frau, die hier Rat suchte. Sie litt unter Gallenkoliken und stand deshalb vor der Entscheidung, ob ihr Kind frühzeitig geholt werden soll.
Klinisches Ethikkomitee
Klinische Ethikkomitees oder -kommissionen gibt es an vielen Kliniken. Allerdings sind Krankenhäuser nicht verpflichtet, ein solches Gremium einzurichten. Am Evangelischen Krankenhaus Lippstadt gibt es das Ethikkomitee seit zehn Jahren. Es besteht aus 13 Mitgliedern, die unterschiedlichen Fachrichtungen angehören. Neben Ärzten engagieren sich hier Pflegekräfte sowie die evangelische Krankenhauspfarrerin und der katholische Krankenhauspfarrer.
Patientenverfügung vermeidet Unklarheiten
Noch vor wenigen Jahrzehnten hat allein der behandelnde Arzt über die Therapie entschieden. „In den vergangenen Jahren hat die Autonomie des Patienten jedoch stark zugenommen“, sagt Annette Chrzanowski. Das ist gut, denn dadurch wird der Patientenwille bei der Therapie stärker berücksichtigt. Es kann den Patienten bzw. die Angehörigen aber auch überfordern.
Aus diesem Grund hebt die Stationsleiterin die Wichtigkeit einer Patientenverfügung hervor. Was der Patient hier festgelegt hat, ist für die Behandlung im Krankenhaus bindend. Deshalb wird jeder Patient bei der Aufnahme in die Klinik gefragt, ob er über ein solches Dokument verfügt, erklärt Dr. Dr. Werner Schweidtmann, Psychoonkologe und Mitglied des Ethikkomitees am EVK.
Alle Beteiligten können sich an das Ethikkomitee wenden
Dennoch kommt es oft zu schwierigen Fragestellungen. „Wir können im Prinzip jeden Tumor operativ entfernen“, bringt Dr. Petra Köster-Oehlmann ein Beispiel. „Die Frage ist aber: Was kann ich damit erreichen, was nicht, und was ist die Alternative?“ Wird beispielsweise ein Tumor im Kopfbereich entfernt, kann das den Patienten entstellen oder dazu führen, dass er danach nicht mehr sprechen kann. Ist das im Sinne des Patienten?
Um solche ethischen Fragen geht es im klinischen Alltag täglich. Meistens kommt der behandelnde Arzt im Gespräch mit dem Patienten oder den Angehörigen zu einer Lösung. Bestehen jedoch Zweifel oder Unstimmigkeiten zwischen den Betroffenen, kann das Ethikkomitee zu Rate gezogen werden. Alle Beteiligten, also Ärzte, Pflegende, Patienten, Angehörige, aber auch Betreuungskräfte können sich an das Ethikkomitee wenden.
Die Ethische Fallbesprechung
Die meisten ethischen Fragen lassen sich in einem ausführlichen Gespräch mit einem Mitglied des Ethikkomitees klären. Für komplexere Fragestellungen gibt es die ethische Fallbesprechung. Dabei beraten alle Beteiligten gemeinsam, wie weiter vorzugehen ist. Den Mitgliedern des Ethikkomitees kommt hier eine moderierende Rolle zu. Sie helfen dabei, eine Lösung zu finden, die von allen akzeptiert wird.
Entscheidung bleibt beim Patienten
Bei Entscheidungen am Lebensende kann das zum Beispiel eine Änderung des Behandlungsziels sein, von kurativ zu palliativ. „Das neue Ziel lautet in dem Fall, dem Patienten einen würdigen letzten Lebensabschnitt zu ermöglichen“, erklärt Dr. Dr. Werner Schweidtmann. Die letzte Entscheidung bleibt jedoch immer beim Patienten bzw. seinen Angehörigen.
Orientierungshilfen für Behandler
Um den Ärzten und Pflegekräften Entscheidungen in kritischen Situationen zu erleichtern, hat das Ethikkomitee am EVK Handlungsempfehlungen für das Klinikpersonal verfasst. Diese gibt es zum Beispiel zur Patientenverfügung, für das Legen einer PEG-Sonde, für die Anordnung einer Therapiebegrenzung und zur Sterbebegleitung.
Auch für einen möglichen Engpass in der Patientenversorgung, wie er durch die Corona-Pandemie denkbar ist, hat das Ethikkomitee Vorsorge getroffen. Derzeit führt die Pandemie noch nicht zu einer Überlastung der Klinik. Sollte es aber soweit kommen, wurden in den Abteilungen Vorkehrungen getroffen, damit jeder weiß, was in einem solchen Fall zu tun ist, sagt Dr. Petra Köster-Oehlmann. Sie hofft aber, dass es nicht soweit kommen wird.
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