Marianne Noldes Mutter hatte einen genauen Plan vom Sterben. Am liebsten wäre sie mitten aus ihrem tatkräftigen Leben geschieden und niemandem zur Last gefallen. Und wenn das schon nicht gelingen sollte, dann wollte sie ihren letzten Atemzug wenigstens beim Amen eines Vaterunsers tun, so wie es von ihrer eigenen Mutter überliefert war.
Beides hat nicht geklappt. Und trotzdem war der Sterbeprozess aus Sicht ihrer Tochter äußerst gelungen. Warum sie das so sieht, erklärt die 67-Jährige in einem Buch, das sie in diesem Jahr veröffentlicht hat. Der Titel „Elf Tage und ein Jahr“. Elf Tage dauerte es von der Diagnose der Ärzte, dass sie der 91-Jährigen nicht mehr helfen könnten, bis zum Tod im Altenheim. Zusätzlich schildert Marianne Nolde das Jahr nach dem Tod.
Ihre Mutter hieß Josefine, kurz Fine. Als Älteste von sechs Geschwistern war sie auf einem Pachthof am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen. Und das prägte sie nachhaltig. „Sie war der Typ ,Ich helfe allen‘“, sagt ihre Tochter.
Immer etwas zurückgeben
Zunächst kümmerte sie sich um Eltern und Geschwister, dann um ihren Ehemann, ihre einzige Tochter und die beiden Enkel, um das Haus und den Garten. Nur widerwillig gewöhnte sie sich daran, Hilfe anzunehmen. „Sie wollte immer etwas zurückgeben“, erinnert sich ihre Tochter. Fast bis zum Ende waren das selbst gestrickte Socken. Die letzten verschenkte Marianne Nolde auf der Beerdigung.
Sie selbst hat nach dem Abitur in Köln und Münster Psychologie studiert. Anschließend arbeitete sie 36 Jahre als Gutachterin für Familiengerichte. Zu erzählen, wie Eltern eine Trennung gut für die Kinder hinbekommen, ist ihr ein Herzensanliegen. Dass eine bewusst erlebte Sterbephase sehr wertvoll sein kann, ein anderes. „Ich will erklären, dass es nicht so schrecklich sein muss.“ Denn das hat sie gleich zweimal erlebt.
Mit Kuchen am Sterbebett
Ihr Vater starb mit 76 Jahren an Parkinson. Seinen langen Krankheitsweg hatten viele Verwandte und Freunde begleitet. Die Gastfreundschaft der Familie blieb bis zum Tod. „Es gab unerschöpfliche Vorräte an eingefrorenem selbst gebackenem Pflaumenkuchen in der Tiefkühltruhe im Keller und selbst gemachten Eierlikör dazu. In meiner Erinnerung sehe ich mich oft mit Gästen im Wohnzimmer am Sterbebett sitzen und Pflaumenkuchen mit Sprühsahne essen.“
Die Mutter konnte schwer allein sein, das machte den Tod des Mannes noch einmal besonders schmerzlich. Marianne Nolde zog deshalb mit ihrem zweiten Ehemann ins Haus der Eltern. Als die Mutter mit Mitte 80 ins Altenheim wechselte – erst widerwillig, dann begeistert – suchte sich das Ehepaar ein neues Domizil in Borken.
Das Altenheim in der Heimatstadt blieb ein wichtiger Anlaufpunkt. Hier verbrachte die Mutter auch die letzten Tage. Ein halbes Jahr lang hatte sie schon immer wieder den Wunsch geäußert, nach „da oben“ umzuziehen. Dass sie Familie und Freunde nach dem Tod wiedersehen würde, das stand für sie unumstößlich fest. Marianne Nolde beschreibt ihre Mutter als tief im katholischen Glauben verwurzelt. Sie selbst konnte das nicht immer nachvollziehen. In der Sterbephase fand sie es sehr hilfreich.
Überhaupt erlebte Marianne Nolde ihre Mutter in den letzten Tagen emotional in guter Verfassung. Noch auf den letzten Metern habe sie ihre besten Seiten gezeigt. Gemeinsam planten Mutter und Tochter die Beerdigung („Das war ein richtig schöner Nachmittag.“). Berührend bedankte sich die Mutter bei Tochter, Schwiegersohn und Enkeln und ließ endlich zu, einfach nur Zuneigung zu erfahren – ohne Gegenleistung. „Zu zeigen, dass Gefühle sein dürfen, ist die halbe Miete“, sagt Marianne Nolde.
Eine lohnende Phase
Im Buch nimmt sie ihre Leserinnen und Leser Tag für Tag und Seite für Seite mit ans Sterbebett und reflektiert ganz nebenbei die Geschichte der Familie. „Persönliches zu erzählen, fällt mir leicht.“ Und sie findet es auch ungemein wichtig. „Wenn Menschen versuchen, Dinge zu verstecken, führt das nur zu mehr Elend“, ist sie überzeugt.
Ihre Erinnerungen hat sie im Jahr nach dem Tod Stück für Stück zurückgeholt, in einem bequemen Sessel und mit dem Laptop auf dem Schoß. Alle Beteiligten hat sie um ihre Einwilligung gebeten. Die beiden Söhne waren direkt einverstanden. Und ihre Mutter? „Wir waren der Meinung, es würde ihr gefallen.“
Gestorben ist sie schließlich am Abend des elften Tages, allein in ihrem Zimmer. „Wir hätten sie vielleicht festgehalten“, meint Marianne Nolde. Beerdigt wurde sie zehn Tage später, Bestatter und Grabstelle hatte Marianne Nolde schon vor dem Tod ausgesucht. Bei der Auswahl des Grabsteins sind die Leser später dabei.
„Ich möchte die Angst nehmen vor etwas, was uns eh nicht erspart bleibt“, sagt sie über ihr Buch, „aber auch niemanden frustrieren, bei dem es nicht so läuft.“
Marianne Nolde liest auch gerne vor Gruppen aus ihrem Buch. Sie träumt von einer Lesung mit Pflaumenkuchen und Eierlikör. Wer Kontakt sucht, findet den auf ihrer Internetseite, bei Facebook oder Instagram.
Was Sterbende bereuen
Die Australierin Bronnie Ware hat lange auf der Palliativstation eines Krankenhauses gearbeitet. Dabei sprach sie immer wieder mit Sterbenden über das, was sie im Rückblick auf ihr Leben bereuen. Eine Liste mit den häufigsten fünf Punkten veröffentlichte sie zunächst in ihrem Blog, später in einem Buch.
Auf der Liste, die Marianne Nolde gerne zitiert, stehen diese Punkte:
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.“
„Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.“
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.“
„Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.“
„Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.“
Leseprobe: „… tot, aber doch ziemlich nah“
„Wenn ich das Jahr nach dem Tod meiner Mutter betrachte, dann war da viel Bestandsaufnahme: Wer war eigentlich meine Mutter? Was hat sie mir mitgegeben? Wo bin ich so wie sie?
Und irgendetwas hatte sich so dermaßen geändert, dass ich mich über jedes bisschen freute, wo ich so war wie sie. Es gab wirklich eine Menge Dinge, bei denen es eine gute Wahl war, so zu sein wie sie. Mein Mann hatte es schon immer gewusst und mir oft genug gesagt.
Bestimmt hat meine Mutter mit dem breitesten Grinsen, das man sich denken kann, dabei zugesehen, wie ich die Pflanzenüberlebenden auf ihrem Grab gerettet habe.
Meine Mutter war zwar tot, aber doch ziemlich nah. Nicht nur auf dem Friedhof. Auch bei uns zu Hause. Da war zum Beispiel ihr Rosenbäumchen. Aber letzten Endes waren es nicht die Dinge, die mich an sie erinnerten, sondern mehr die Art zu sein.
Und was ich bislang noch nicht erwähnt habe: Ich hatte mittlerweile nicht nur ihr Rosenbäumchen in unseren Garten, sondern auch die beiden zugehörigen Schafe aus Ton. Die fand ich immer viel zu kitschig, ich mochte sie überhaupt nicht. Jetzt hingegen wohnt eines der beiden auf einem schönen Betonteller, der mit wechselnder Deko auf unserem Gartentisch steht. Da sitzt das Schaf und schaut mich immer etwas schelmisch an, wenn wir draußen essen. Das andere schaut von einem Fenstersims neben dem Tisch arglos in den Garten hinaus. Und das Ganze gefällt mir auch noch.“
Elf Tage und ein Jahr. Über das Abschiednehmen von meiner Mutter – von Marianne Nolde, Pinguletta Verlag, ISBN 978-3-948063-25-2, 232 Seiten, 17 €.
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