Die Beerdigung, die Ute Heimann vor fast 40 Jahren in Gelsenkirchen durchführte, wird ihr immer in Erinnerung bleiben. Alleine, bewaffnet mit einem Spaten, schob sie die Schubkarre. Auf dieser lagen zwei etwa hüfthohe Madonnen aus Ton. Ziel des ungewöhnlichen Trauerzuges: die Baustelle für den neuen Lärmschutzwall, unweit der A 2. Dort hatten die großen Baumaschinen bereits begonnen, Erde aufzutürmen. Doch nun war Feierabend und der Ort menschenleer. In dieser Ruhe wollte Ute die beiden Madonnen, die Jahrzehnte in ihrem Elternhaus gestanden hatten, begraben – ihnen die letzte Ruhe gewähren. Utes Eltern mussten den landwirtschaftlichen Betrieb, den sie in der Vergangenheit gepachtet hatten, verlassen. Die beiden Madonnen waren Erinnerungsstücke. Doch gab es für sie keinen Platz in der neuen Wohnung. Deshalb beerdigte Ute sie, denn zertrümmern und in den Müll werfen wollte sie sie nicht.
Ein Rest Respekt
Wie Ute geht es vielen Menschen. Sie fragen sich, was sie mit den Rosenkränzen, Kreuzen oder anderen sakralen Elementen tun sollen, die sie von ihren Vorfahren übernommen oder im alten Haus gefunden haben. Eine Option: „Ab in den Müll.“ Das sagt zumindest der Leitfaden der Katholischen Kirche (siehe Kasten: „Wohin mit alten Kreuzen?“). „Doch viele Menschen haben einen Rest Respekt – auch dann, wenn sie selbst nicht gläubig sind“, sagt Arthur Springfeld, Diakon in Verl im Kreis Gütersloh. Grund genug für den 77-Jährigen, direkt vor der Kirche in seiner Gemeinde St. Judas-Thaddäus den Kreuzhügel zu initiieren. Dort kann jeder sein Kreuz aufhängen lassen und ihm so zur letzten Ruhe verhelfen.
Wohin mit alten Kreuzen?
Der „Leitfaden für den angemessenen Umgang mit nicht mehr verwendeten religiösen Gegenständen“ der katholischen Kirche gibt weitere Tipps:
Ab ins Grab: Als Beigabe im oder auf dem Sarg verbleibt das Kreuz beim Verstorbenen.
Als Votivgabe: In vielen Wallfahrtsorten ist es möglich, kleine Kreuze und andere religiöse Gegenstände als Dank anzubringen.
Ins Fundament: Markante religiöse Gegenstände mit hoher Symbolkraft lassen sich in das Fundament bzw. die Grundsteinkapsel von Gebäuden einbauen. Dazu ist eine frühzeitige Absprache mit dem Architekten bzw. dem Bauträger nötig.
Entsorgen: Kreuze können im Restmüll oder je nach Material beim Wertstoffhof entsorgt werden. Unbehandelte Holzkreuze dürfen, nach Absprache mit den Organisatoren, häufig auch im Osterfeuer verbrannt werden.
Kreuze auf dem Schrank
„Als wir unsere Idee publik machten, hatten wir einen ganz schönen Andrang“, erinnert sich Springfeld. Bis dahin hatten ihn immer wieder Angehörige von Verstorbenen angesprochen und gefragt, ob er die Kreuze, die sie bei den Wohnungsauflösungen fanden, nehmen würde. „Irgendwann hatte ich zehn Stück auf dem Kleiderschrank liegen“, erzählt er, „ich brauchte eine Lösung.“ Heute kann man die ausgedienten Kreuze einfach hinten in der Kirche ablegen. Springfeld und seine Kollegen hängen sie dann an die etwa 2,5 m hohen Holzkonstruktionen auf dem Kreuzhügel. Interessant findet der Diakon, dass immer wieder Gemeindemitglieder die abgegebenen Kreuze so schön finden, dass sie sie gerne mit nach Hause nehmen würden. „Doch da schieben wir einen Riegel vor“, sagt er, „schließlich wurden die Kreuze ganz bewusst bei uns abgegeben, damit wir sie auf den Hügel bringen.“
Ab ins Osterfeuer
„Die meisten Kreuze sind nicht für draußen gebaut“, sagt Springfeld. Mit den Jahren verrotten sie. Nur selten halten sie länger als ein Jahr der Witterung stand. „Eigentlich müssten wir einmal wöchentlich mit dem Akkuschrauber durchgehen und schauen, welches Kreuz wir zusätzlich fixieren müssen, damit es noch ein wenig länger zusammenhält“, erklärt der Diakon. Dabei verfolgt das kleine Beet unmittelbar vor der Kirche genau dieses Ziel: Die Kreuze sollen so weit verrotten, dass sie zerfallen. „Die Reste werfen wir dann mit aufs Osterfeuer“, erklärt Springfeld.
Kein Berg nötig
Die Inspiration für den Kreuzhügel in Verl fand Springfeld in Litauen. In Šiauliai (deutsch: Schaulen), einem kleinen Ort im Norden Litauens, stehen heute mehr als 40 000 Kreuze auf einem Berg (siehe Kasten „Litauen: Der widerspenstige Berg der Kreuze“). Die sind zwar nicht alle alt und haben ausgedient, doch die Szene hat Springfeld beeindruckt und auf die Idee gebracht, etwas Ähnliches zu Hause zu etablieren. Da ist es auch nebensächlich, dass es in Verl keinen Hügel, geschweige denn einen Berg im unmittelbaren Umfeld der Kirche gibt. Der Kreuzhügel in Ostwestfalen misst keine 50 cm Höhenunterschied zum Umland. Den braucht es aus Sicht von Springfeld auch nicht. Denn bei seinem „Hügel“ geht es nicht um eine Erhebung, sondern darum, dass Kreuze dank der Witterung ein würdiges Ende finden. Arthur Springfeld ist überzeugt: „Auch Kreuze dürfen sterben.“
Litauen: Der widerspenstige Berg der Kreuze
Der wohl größte und älteste Kreuzhügel liegt im Norden Litauens, etwa 50 km südlich der Grenze zu Lettland. Wie es dazu kam, dass auf dem Doppelhügel nahe Šiauliai heute vermutlich mehr als 40 000 Kreuze stehen versuchen gleich zwei Legenden zu erklären. Die eine besagt, dass ein Vater am Krankenbett seiner Tochter im Traum den Befehl erhalten habe, auf diesem Hügel ein Kreuz aufzustellen. Seine Tochter wurde wieder gesund. Eine andere Legende besagt, dass ein Adliger auf dem Weg zum Prozess das Gelübde abgelegt hatte, an dieser Stelle ein Kreuz zu errichten, sollte er vor Gericht gewinnen. Er gewann.Bereits im Mittelalter soll der Ort als Gebet- und Opferstätte gedient haben. Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Ort immer wieder zum Schauplatz blutiger Kämpfe und entsprechend häufig verwüstet. Als sich die Litauer im 19. Jahrhundert gegen die russische Obrigkeit auflehnten, wurde der Hügel zum Zeichen für den Widerstand. Die Menschen stellten Kreuze auf, in Erinnerung an gefallene Familienmitglieder sowie für dort hingerichtete Aufständische. Während der Stalin-Regentschaft kamen Kreuze zum Gedenken an verschleppte Landsleute hinzu. Das Regime zerstörte sie immer wieder, doch die Menschen stellten stetig neue Kruzifixe auf. Seit 1991 ist Litauen unabhängig und der Berg der Kreuze hat sich zum Wallfahrtsort entwickelt.
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