Ein weißes Mädchen sitzt auf einer Bank. Vor ihr knien zwei dunkelhäutige Kindermädchen. Ihnen ist untersagt, auf derselben Bank Platz zu nehmen. Dieses Foto zeigt Dr. Debbie Stoll Mitte Februar dem diesjährigen Grundkurs an der Landvolkshochschule in Hardehausen. „Das Mädchen könnte auch ich sein“, sagt sie.
Denn die heute 50-Jährige wuchs während der Apartheid in Südafrika auf – einem Staat, in dem der Rassismus in der Verfassung verankert war. Konkret bedeutete das: 6 Mio. hellhäutige Menschen waren privilegiert, durften wählen und genossen Wohlstand und Bildung. 40 Mio. Menschen mit anderer Hautfarbe war dies verwehrt. Vor 30 Jahren endete das System mit den ersten freien Wahlen in Südafrika.
Die promovierte Sprachwissenschaftlerin Stoll lebt seit mehr als 20 Jahren in Deutschland und besitzt seit 2017 die deutsche Staatsbürgerschaft. Als selbstständige Kommunikationstrainerin berät sie Unternehmen und ist in der Erwachsenenbildung tätig. Dabei greift sie oft auf ihre Erfahrungen in der Apartheid zurück. Vor allem jetzt, während der Rassismus in Deutschland wieder salonfähig wird und AfD-Politiker von Deportationen träumen.
Ein Stift entscheidet
Doch zurück in die Zeit der Apartheid: Die dunkelhäutigen Nannies, die für Stolls Familie arbeiteten, durften nicht im selben Haus leben. Sie wohnten in einem Nebengebäude auf dem Grundstück. „Vor allem zu einem Kindermädchen hatte ich eine sehr enge Bindung. Sie war wie eine Mutter für mich“, sagt sie und hat bis heute zu ihr Kontakt. Apartheid heißt auf Afrikaans – einem niederländischen Dialekt – Trennung. „Das war wortwörtlich zu nehmen“, sagt sie.
Generell war es dunkelhäutigen Menschen untersagt, in weißen Wohnvierteln abends und nachts die Straße zu betreten. Sie wurden in sogenannten Homelands zusammengepfercht. Diese Reservate waren formell unabhängig. Hinzu kamen die Townships – Barackensiedlungen am Rand der Städte.
Vor allem seit 1948 verabschiedete die weiße Regierung immer mehr Gesetze, die die Trennung zementierten. Konkret sortierten die Behörden Menschen in vier Gruppen ein, die mehr oder weniger Rechte hatten: Neben den sogenannten Weißen und Schwarzen gab es noch Coloured – Nachkommen von weißen Siedlern und Ureinwohnern – und Asiaten. Bei der Eingruppierung kam unter anderem ein Stift zum Einsatz. „Blieb der Stift in den Haaren hängen, galt man als schwarz“, erzählt Stoll. Dabei gab es sogar innerhalb von Familien unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten und damit verschiedene Rechtsstatus.
Mandela gibt Macht ab
Gepanzerte Polizeifahrzeuge begleiteten die Schulbusse, in den Debbie Stoll und ihre Mitschülerinnen saßen. Anschläge von dunkelhäutigen Freiheitskämpfern waren möglich. Dabei schürte die Regierung bewusst die Angst vor der „schwarzen Gefahr“. In der Schule sah Stoll Filme über die angeblichen Gräueltaten. „Bis heute kann ich keine Filme schauen, die ab 16 Jahren freigegeben sind“, sagt sie.
Die weißen Eliten hielten die dunkelhäutigen Menschen für rückständig. Sie würden an Hexen und Kobolde glauben. Doch schon als Kind zweifelte Debbie Stoll die Ungleichheit an. „Laut der Bibel wären doch alle Menschen gleich“, fragte sie ihre Eltern. Mit solchen Aussagen stieß sie in ihrer Familie – eine Großmutter war eine bekannte rechtsextreme Politikerin – auf taube Ohren. Debbie war geliebt, blieb aber eine Außenseiterin.
Anfang der 1990er-Jahre endete das Apartheid-Regime. Das war auch für Debbie Stoll eine Befreiung. Sie nennt diesen Schritt nicht weniger als „den Weg zu mir selbst“. Endlich konnte sie frei ihre Meinung äußern, die Lüge von der Ungleichheit entlarven.
Viele andere Weiße hingegen fürchteten die Rache der Unterdrückten. Sie legten Vorräte an und bewaffneten sich. Mit Nelson Mandela (1918–2013) wurde aber ein Mann gewählt, der trotz seiner 27-jährigen Haft nicht auf Rache sann. „Er sah Südafrikas Zukunft in seiner Vielfalt als Regenbogennation“, sagt sie. Heute gibt es elf Amtssprachen. Besonders imponierte ihr an Mandela, dass er seine Amtszeit beschränkte – anders als viele Präsidenten in Afrika. Mandela verlieh Südafrika bis zum Ende des Jahrtausends Stabilität.
Doch der Hass, dessen Wurzeln in der Apartheid liegen, bricht in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder auf. Stolls Onkel, ein Farmer, wurde gefoltert und lebt mittlerweile in Australien. Sie selbst hat an der Uni Anfeindungen erlebt und wurde ausgeraubt. Mittlerweile hat Südafrika eine der höchsten Kriminalitätsraten der Welt. Hinzu kommt ein großes Korruptionsproblem. Unterschiedliche Gruppen ringen um die politische Macht. „Das Land leidet bis heute an seinem Erbe aus Unterdrückung und Rassismus.“
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