Auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt: Ein Adrenalinjunkie ist Malte Ex nicht. Er ist Sachverständiger innerhalb der 8.21 Group. Gut gesichert steht er auf der Gondel einer Windenergieanlage (WEA). Er prüft seine Ausrüstung lieber noch ein zweites Mal, bevor er sich in die Tiefe abseilt und die Rotorblätter auf Risse oder andere Schäden untersucht. Quadratzentimeter für Quadratzentimeter schaut er sich die Oberfläche an, führt bei Bedarf Klopfproben durch, markiert Auffälligkeiten, bewertet und notiert.
Weiterbetrieb möglich?
Die Prüfung der Rotorblätter, die Ex an der WEA von Karl-Heinz Kleinebecker in Gütersloh durchführt, gehört zur „Bewertung und Prüfung zum Weiterbetrieb nach Erreichen der kalkulierten Lebensdauer (BPW)“, die bei den meisten WEA nach 20 Betriebsjahren zumindest dann durchgeführt werden muss, wenn der Betreiber seine Anlage nicht stilllegen, sondern weiterbetreiben möchte.
Die BPW hat folgende Ziele: Sie stellt den technischen Zustand der Anlage fest, trifft eine Aussage darüber, inwieweit ein weiterer, sicherer Betrieb der WEA gegeben ist und legt notwendige Maßnahmen zur Erhaltung der Standsicherheit fest.
Nach Auslaufen der EEG-Förderung
WEA-Betreiber Kleinebecker ist längst nicht der einzige, der seine Anlage zur BPW anmeldet: Im Jahr 2021 erreichen rund 7000 WEA mit einer Leistung von rund 5000 MW das 20. Betriebsjahr. Gleichzeitig endet für sie dann auch die Förderung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG).
In den Jahren danach geht es weiter: In der Spitze werden im Jahr 2022 fast 2300 WEA 20 Jahre alt und in der Zeit von 2024 bis 2032 werden im Schnitt rund 1000 Anlagen pro Jahr ihren 20. Geburtstag feiern. An geeigneten Standorten sparen sich manche Betreiber die Prüfung und ersetzen ihre alte Anlage oft schon vor Ende der 20 Jahre durch eine neue, größere und leistungsstärkere.
Doch nicht überall ist Repowering möglich. „An unserem Standort bekomme ich vermutlich keine Genehmigung für eine neue Anlage. Diese müsste einen erheblich höheren Turm haben, um an diesem windschwachen Standort wirtschaftlich zu sein“, erklärt Kleinebecker. Er möchte seine Enercon E-70 (Nabenhöhe 85 m, Rotordurchmesser 70 m, Generatorleistung 1800 kW) mit dem Baujahr 2000 solange wie möglich weiterbetreiben.
Genaue Prüfung vor Ort
Während Ex sich dreimal von der Gondel abseilt, um nacheinander alle Rotorblätter in Augenschein zu nehmen, untersucht sein Kollege Daniel Tönnissen vom 8.2 Ingenieurbüro Lippetal die anderen Anlagenteile. Dabei arbeitet er sich systematisch von unten nach oben vor, schaut sich das Logbuch, das Fundament, Umrichter- und Schaltschränke, Steuerungselektronik, Lager, Bremsen und Verschraubungen genau an und führt eine Schwachstellenanalyse durch. Dabei achtet er insbesondere auf die typen- und serienspezifischen Risiken der jeweiligen Anlage. „Oft“, sagt Tönnissen, „ist dieser Eindruck vor Ort entscheidend für die Ergebnisse der gutachterlichen Stellungnahme. An anderer Stelle wägen wir ab, ob weitere Untersuchungen sinnvoll sind.“
Neben dem reinen Untersuchungsergebnis versucht er, den Betreiber weiter zu unterstützen. „Es ist gut, wenn wir nicht nur feststellen, sondern auch Handlungsempfehlungen geben können“, meint er.
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Neben der praktischen Prüfung vor Ort gehört ein analytischer Nachweis zur BPW: Anhand von Herstellerunterlagen, Berichten aus dem Serviceportal, von Informationen zu Reparaturen und Wartungen usw. erfolgt eine Simulation, die die theoretische Gesamtnutzungsdauer der Anlage berechnet. Untersuchungen der 8.2 Gruppe ergab eine Gesamtnutzungsdauer der bewerteten WEA zwischen 21 und 50 Jahren. Entsprechend schwanken die berechneten Restnutzungsdauern nach 20 Betriebsjahren zwischen einem und mehr als 20 Jahren.
Einfluss auf die mögliche Nutzungsdauer haben unter anderem der Anlagentyp, die Qualität und Häufigkeit von Wartung und Pflege und auch die Standortbedingungen (zum Beispiel die erreichte Lebensleistung in kWh und die Stärke von Windturbulenzen). Manchmal lässt sich die Restnutzungsdauer allein durch die Instandsetzung der schwächsten Komponente verlängern.
Betreiber Kleinebecker kann mit dem Ergebnis des Gutachtens zufrieden sein. Seine Anlage ist gut gepflegt und gewartet. Einem längeren Weiterbetrieb steht von der technischen Seite her nichts im Weg.
Rechnet sich das?
Doch auch wenn Funktionsfähigkeit und Sicherheit der WEA noch so wichtig sind, der Weiterbetrieb muss auch wirtschaftlich sein. Jeder Betreiber muss sich fragen, ob die zu erwartenden (niedrigeren) Erlöse nach Ende der EEG-Vergütung ausreichen, um Betriebskosten und Gewinnerwartung zu decken. Manchmal kann es sinnvoll sein, die Fahrweise der Anlage an die neue Situation anzupassen, also zum Beispiel die Anlage bei Starkwind eher aus dem Wind zu drehen, um Anlagenteile zu schonen. Manchmal lohnt ein Weiterbetrieb nur solange, bis dann doch eine größere Reparatur ansteht.
Fest steht: Jeder Betreiber muss für seine Anlage entscheiden. Eins ist Kleinebecker noch wichtig: „Altanlagen können und müssen weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten. Günstiger lässt sich regenerativer Strom kaum produzieren. Allerdings müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Vermarktungsmöglichkeiten so ausgestaltet sein, dass ein wirtschaftlicher Weiterbetrieb auch möglich ist. Sonst gehen bald viele funktionierende Anlagen ohne Ersatz vom Netz. Es besteht dringend Handlungsbedarf“, betont er.
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