Kontrovers: Europäische Pressestimmen

Was treibt Europas Bauern auf die Straßen?

In vielen Ländern der EU protestieren derzeit Landwirte. Die europäische Presse sieht Gemein­samkeiten, aber auch Unterschiede.

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG – Schweiz
Die Landwirte gehen überall in Europa auf die Barrikaden. In Frankreich kippen sie Gülle vor Rathäuser, um gegen eine Steuererhöhung beim Agrardiesel zu protestieren. In den Niederlanden belagerten sie tagelang das Wohnhaus einer Ministerin. In Deutschland, Italien und Polen blockieren sie mit Traktoren Autobahnen und Straßen.
Der Tenor ist fast immer derselbe: Es ­würden ständig neue Vorschriften erlassen, um die Landwirtschaft klimafreundlicher zu machen. Dabei ist aber unklar, wie die Reformen umgesetzt werden sollen und wer sie bezahlen wird: die Landwirte, die Steuerzahler oder die Konsumenten.
In Brüssel hat man erkannt, wie explosiv die Stimmung ist. Seit Jahrzehnten werden hier die Subventionen in Milliardenhöhe für den Agrarsektor verhandelt. Fast ebenso alt ist die Wut der Betroffenen gegen die Kürzung staatlicher Zuschüsse, die Öffnung neuer Märkte, den Transformationsdruck, das Hof­sterben. Doch die jüngsten Proteste sind heftiger als früher.

LE TEMPS – Schweiz
Eine der Grenzen der Bewegung liegt darin, dass es nicht nur die eine französische Landwirtschaft gibt. Es gibt mehrere französische Landwirtschaften mit verschiedenen Schicksalen. Ihre Forderungen sind so vielschichtig, wenn nicht sogar widersprüchlich, dass die Regierung niemals in der Lage sein wird, in ihrer Gesamtheit auf sie einzugehen. Selbst wenn sie wollte. Es sei denn, diese Vielzahl divergierender und damit unerfüllbarer Forderungen führt dazu, dass die Bewegung zwangsläufig noch länger andauert wie seinerzeit jene der Gelbwesten.

LA STAMPA – Italien
Die grenzüberschreitenden und sich von ­einem Land zum anderen ausbreitenden Unruhen sind in vielerlei Hinsicht paradox, die Vorwände klingen improvisiert. Ja, die Landwirte müssen im Staub schuften, inmitten des Gestanks von Dung, wie unser Minister Lollobrigida es ausdrückte, und ihre Einkommen sind anfällig für alle Unwägbarkeiten des Klimas, die in Zukunft wahrscheinlich noch zunehmen werden.
Allerdings ist die Berufsgruppe durch jahrzehntelange großzügige öffentliche Förderung auch verwöhnt. Gerade weil die in den Traktorparaden so viel gescholtene Gemeinsame Agrarpolitik unterm Strich recht großzügig ist, kann man nicht erwarten, dass sie mehr Mittel ohne Gegenleistung zur Verfügung stellt.

DER NORDSCHLESWIGER – Dänemark
Hier bei uns in Dänemark hat die Regierung sich dazu entschieden, den Landwirtinnen und Landwirten möglichst wenig Veränderung zuzumuten. Nicht weil dies der sinnvollste Weg ist. Sondern, das hat Landwirtschaftsminister Jacob Jensen ganz offen gesagt, damit die Wut der Bauernschaft nicht auch hierzulande explodiert – und dadurch eine Zusammenarbeit schwer bis unmöglich wird.
Auf europäischer Ebene haben demokratisch gewählte dänische Politikerinnen und Politiker längst eine Landwirtschafts- und Klimapolitik mit ausgearbeitet und ihr zugestimmt, die massive Umstellungen in der Förderung und Regulierung zur Folge hat.Daheim in Dänemark wird dann so getan, als wolle „Brüssel“ nun halt dieses und jenes und man versuche alles, um die Auswirkungen auf die Landwirtschaft hierzulande so weit wie möglich abzumildern.
Das ist verlogen. Es nährt den fatalen Mythos vom fernen Brüssel, das angeblich über un­sere Köpfe hinweg entscheidet – und es hilft vor allem unserer Landwirtschaft nicht, die Herausforderungen anzugehen, die anstehen.
Vielleicht sollten beide Seiten mal den Ja-Hut aufsetzen und die Dinge positiv sehen? Das massive kulturelle und fachliche Potenzial, das wir in der Landwirtschaft haben, wertschätzen – und die riesigen Chancen, die für die Landwirtinnen und Landwirte in natur- und klimagerechten Umstellungen liegen, nutzen.

LE FIGARO – Frankreich
Souveränität – noch nie war dieses Wort, das in Zeiten der Globalisierung nach Motten­kugeln roch, so aktuell. Präsident Macron und Premierminister Attal hatten nur dieses eine Wort auf den Lippen. ­Macron forderte, dass die europäische Agrarpolitik „grundlegend überarbeitet“ werden müsse. Premier Attal versprach, die Souveränität für die französische Landwirtschaft gesetzlich zu verankern.
Hat der Zorn der Bauern endlich politische Konsequenzen? Hat die Warnung fünf Monate vor den Europawahlen gezeigt, dass Brüssel sich ändern muss, weniger technokratisch, pragmatischer und weniger pingelig? Die Forderung nach mehr Souveränität kommt zu spät.

LRT (öff.-rechtl. Rundfunk) – Litauen
Die protestierenden Bauern haben ganz ­Litauen gespalten, ohne es zu wollen. Und mit der Schneeschmelze haben sie die Themen eines möglicherweise bevorstehenden Krieges und das Gezänk der urlaubenden Politiker verdrängt. Selbst die Nachricht des Nationalen Verteidigungsrates über den milliardenschweren Kauf von Leopard-Panzern verblasste vor der Kolonne der Demons­tranten. Für ihre jährliche Milliarde an Unterstützung. Immerhin ist das der Betrag, den die Landwirtschaft jedes Jahr an Bei­hilfen erhält.
Wogegen kämpfen die Landwirte eigentlich, fragen sich die Städter, nachdem sie polnische Milch in ein Glas gegossen und marokkanische Kartoffeln gebraten haben.
Die Landwirte fordern, dass die Verpflichtung zur Wiederherstellung von Dauergrünland zurückgenommen wird. Sie wollen mehr Land für Boden und Getreide. Natürlich ist der Getreideexport profitabel, sodass jedes Stück Land ein zusätzliches Einkommen bedeutet. Haben die murrenden Bürger von Vilnius das begriffen?

El Pais – Spanien
Die aktuelle Situation kann nur mit Brüssel überwunden werden, und nicht mit wahllosen Angriffen auf die GAP, wie es sie bei den jüngsten Protesten in unverantwort­licher Weise gab.
Die GAP müsste überdacht werden, um eine effektive Verteilung ihrer 378 Mrd. € (2021 bis 2027) zu gewährleisten. Bislang erhalten 20 % der Landbesitzer 80 % der Direktzahlungen. Der EU-Agrarpolitik fehlt eine echte Wirkung auf dem Land. Sie erfüllt nur die Forderungen der Bauernverbände, die nicht mit den Interessen der Bevölkerung zusammenfallen.

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