Aus Schläuchen an der Wand tropft es. Messgeräte zeichnen die Wassermenge auf. Winzige Stalaktiten ähnlich wie in einer Tropfsteinhöhle hängen von der Decke. Vor den Füßen der Besucher liegt der Kontrollschacht der Möhnetalsperre, dessen Ende im Unsichtbaren verschwindet. Über den Köpfen lasten etwa 30 t pro Quadratmeter.
„Es ist normal, dass Wasser durch das Mauerwerk sickert. Keine Staumauer ist vollständig dicht“, beruhigt Ludger Harder und erklärt: „Die Drainage nimmt den Druck aus dem Sickerwasser.“ Ludger Harder arbeitet seit mehr als 20 Jahren an der Talsperre des Ruhrverbandes. Der Betriebsleiter und sein 15-köpfiges Team aus Maurern und Mechanikern kümmern sich um die Standfestigkeit der Mauer der achtgrößten Talsperre Deutschlands, die eine maximale Staumenge von 130 Mio. m³ fasst.
Nachgerüsteter Stollen
„Im weltweiten Vergleich ist der Möhnesee nur eine Pfütze“, sagt der Bauingenieur lapidar. Bei der Einweihung 1913 war die Mauer Teil einer der größten Stauanlagen Europas und die erste, die vom Ruhrtalsperrenverein, einem Vorgänger des Ruhrverbandes, selbst errichtetet wurde. Allein durch seine Masse, 250 000 m³ Mauerwerk, stemmt sie sich gegen den Druck des Wassers.
Die ursprüngliche Drainage der Mauer wurde nach dem hastigen Wiederaufbau im Jahr 1943 verpresst. Binnen weniger Monate zogen vor allem Zwangsarbeiter die von einer Fliegerbombe getroffene Mauer wieder hoch. Doch die fehlende Drainage bedrohte auf Dauer die Standfestigkeit.
So sprengte der Ruhrverband kontrolliert in den 1970er-Jahren einen 2,5 m hohen und 500 m langen Stollen durch den Sockel der Mauer. Er ermöglicht eine verbesserte Entwässerung und Kontrolle des Bauwerkes. „Wir müssen uns dem Gefahrenpotenzial der Mauer ständig bewusst sein“, sagt Ludger Harder. Als sie im Mai 1943 brach, starben mehr als 1200 Menschen, darunter viele Zwangsarbeiterinnen, deren Baracken an der Mauer standen.
Trinkwasser für den Pott
Etwa 40 m über dem Stollen schlendern Spaziergänger über den 650 m langen Kronenweg, der leicht gebogen ist, um die Temperaturschwankungen im Jahresverlauf auszugleichen. Sie blicken am Rande des Ausgleichweihers, wie der kleinere See der Anlage heißt, auf ein Kraftwerk. Im Normalbetrieb strömt Wasser über einen stahlgepanzerten Stollen mit 30 m pro Sekunde ins Kraftwerk. Dessen zwei Turbinen und ein Nebenkraftwerk am Ende des Ausgleichsweihers erzeugen Strom für mehr als 3500 Haushalte.
Doch die Stromerzeugung ist nicht die Hauptaufgabe der Möhnetalsperre. Gebaut wurde sie, um das Ruhrgebiet mit Wasser für Mensch und Montanindustrie zu versorgen. Ein System aus acht Talsperren im regenreichen Sauerland schafft es, dass die kleine Ruhr heute jeden Tag 4,2 Mio. Menschen mittelbar mit Trinkwasser versorgt.
Die Möhnetalsperre ist dabei ein wichtiger Baustein: Sie bildet mehr als ein Viertel des Talsperrenstauraums im Ruhreinzugsgebiet. Außerdem sorgt sie für den Hochwasserschutz im Umland. Ohne die Mauer führte das Schmelzwasser aus dem Sauerland immer wieder zu Hochwasser entlang der Möhne und der Ruhr.
Nahe dem Stauziel
Von der Mauerkrone schweift der Blick Ende Juli auf einen fast vollen Stausee. Der Starkregen hat auch hier seine Wirkung gezeigt. Das Staumaximum von 213 m ist fast erreicht. Überschreitet das Wasser dieses Stauziel um wenige Meter geht die Hochwassserentlastung in Betrieb.
Das war das letzte Mal im August 2007 der Fall. Dann bildet sich aus 105 Öffnungen unterhalb der Fahrbahn der Krone ein kontrollierter Wasserfall. Dass der See so gefüllt ist, hängt mit den Wetterlagen der Vorjahre zusammen. „Drei so heiße Jahre in Folge hat die Talsperre noch nicht erlebt“, sagt der Betriebsleiter. Im Spätherbst 2018 hatte der Stausee nur 30 % des Stauvolumens. Alte Brücken kamen zum Vorschein. Menschen wagten sich in den weichenden See.
Der Ruhrverband hatte Schwierigkeiten, Grenzwerte einzuhalten und die Stromerzeugung aufrechtzuerhalten. Daher versucht der Verband nun übers Frühjahr den See relativ hoch anzustauen. Doch das wird zur Gratwanderung: Im Sommer muss der Ruhrverband genug Wasser für die Ruhr vorhalten. Noch genügend Stauraum freizuhalten, um ein mögliches Hochwasser durch Starkregen abzufedern, ist dann kaum möglich.
Hinzu kommt, dass die umliegenden Fichtenbestände sehr unter Borkenkäfer und Trockenheit litten. Mittlerweile fehlt der Puffer des Waldbodens, der für einen gemächlichen Abfluss des Regens sorgte, beschreibt Ludger Harder.
Auf Basis von Niederschlag, Pegel, Stauinhalt und Abflussmengen entscheiden seine Kollegen in der Talsperrenleitzentrale in Essen tagesaktuell, wie viel Wasser die Talsperren abgeben müssen, um die gesetzlich vorgegebenen Grenzwerte in der Ruhr einzuhalten.
Ein wichtiger Fixpunkt ist der Pegelstand der Ruhr in Schwerte-Villigst: Hier verlangt das Ruhrgesetz einen Durchfluss von 8,5 m³ Wasser pro Sekunde. In den vergangene drei Jahren musste der Ruhrverband aufgrund der langen Trockenperioden von April bis in den Herbst Sondergenehmigungen bei der Bezirksregierung beantragen. Nur so konnten sie den Wasserstand in den Talsperren des Sauerlandes schonen.
Die Mauer bleibt stehen
Vom Ufer des Ausgleichsweihers wirkt die Mauer wie eine mittelalterliche Burg. Das Mauerwerk aus Grauwacke ist zum Teil noch original. Abschnitte des Bauwerks stehen unter Denkmalschutz. Allein 2000 Arbeiter schufteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Tal der Möhne, wo die kleinere Heve in den Fluss plätschert. Nach etwa fünf Jahren stand die Mauer. 700 Menschen mussten damals Haus und Hof verlassen – zum Teil zwangsenteignet.
„Heute würde man ein Dammbauwerk errichten und keine Mauer“, sagt Ludger Harder. Nichtsdestotrotz ist die Mauer in einem guten Zustand. Er und sein Team prüfen die Luftseite der Mauer ständig auf Durchwurzelungen und Verwitterung. Täglich kontrolliert das Team die Anlagen von bestimmten Punkten aus, hinzukommen ständige Messungen. Jeden Bereich der Luftseite überarbeiten sie etwa alle vier Jahre. Dann werden Fugen erneuert und Steine getauscht.
Die Wasserseite der Mauer kontrollieren Taucher alle zehn Jahre. Sie filmen den wasserbenetzten Teil der Mauer. Ludger Harder und sein Team entscheiden dann über weitere Maßnahmen.
In den Türmen verbergen sich vier Grundablässe, die überdimensionierten Wasserhähnen ähneln. Sie bestehen aus einem Ringventil und einem Gehäuseschieber samt Kegeldüse. „95 % des Wassers gehen aber durch den direkten Ablass zum Kraftwerk“, sagt der Betriebsleiter. Die vier Grundablässe münden in den Ausgleichsweiher. Bei Bedarf steuert sie das Personal vor Ort.
Die Möhnetalsperre ist über 100 Jahre alt. „An sich rechnet man mit einer Standzeit von 80 Jahren“, sagt Ludger Harder. Durch die ständige Kontrolle und regelmäßige Sanierung soll sie mindestens weitere 100 Jahre dem Wasser trotzen.
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