Wenn Kinder mit Eltern aufwachsen, die jeweils eine andere Sprache sprechen, lernen sie meist automatisch beide Varianten. Ganz ähnlich ist das bei Dorothee und Elisabeth Wullengerd, beide geborene Rickfelder. Nur bei ihnen ist die Muttersprache Plattdeutsch, genauer gesagt das Spexarder Platt mit Kattenstrother-Einschlag, beides Ortsteile von Gütersloh. Und der Begriff Muttersprache trifft doppelt: Die Schwestern und ihre beiden weiteren Geschwister sprechen mit ihrer Mutter und ihren eigenen Kindern Platt. Ungewöhnlich für zwei Frauen, die Mitte der 1980er-Jahre geboren sind. Mit ihrem Vater und ihren Ehemännern, den Zwillingen Raphael und Benedikt Wullengerd, sprechen die beiden Frauen hingegen Hochdeutsch.
Leben in der Nachbarschaft
Die Brüder Wullengerd haben in Gütersloh-Friedrichsdorf ein Lohnunternehmen und bauen auf 100 ha Rollrasen sowie auf 50 ha Kartoffeln und Getreide an. Auf dem Hof lebt Dorothee mit ihrem Mann Benedikt und den drei Kindern Luisa, Johann und Clara. Gerade wuseln die Kinder durch die Küche. Ihre Mutter ruft ihnen beim Rausgehen auf Platt zu, dass sie ihre Jacken anziehen sollen. „Plattdeutsch ist für mich Alltag“, sagt die 40-Jährige. Gute 100 m entfernt in Sichtweite wohnt ihre Schwester Elisabeth mit ihrem Mann Raphael und vier Kindern.
Doch wie kam es, dass sich das Platt so bei ihnen verfestigt hat? Springen wir zurück in die 1980er-Jahre. Dorothee und Elisabeth wuchsen auf einem Resthof in Gütersloh-Kattenstroth auf. Im Elternhaus lebten auch die Eltern ihres Vaters, beide konnten noch Platt sprechen. „Unser Vater, Jahrgang 1953, sprach kein Platt. Seine Eltern vermieden es, ihn auf Platt zu erziehen. Denn in den 1950er- und 1960er-Jahren war es verpönt, Platt zu sprechen“, erzählt Dorothee Wullengerd. Damals galten Familien in den Dörfern als rückständig und bildungsfern, wenn sie noch Platt sprachen. In den Schulen legten die Lehrer wert auf die hochdeutsche Sprache. Anders bei ihrer Mutter. Sie ist auch Jahrgang 1953 und sprach noch den Dialekt. „Mutter ist die Jüngste von elf Geschwistern. Bei ihnen auf dem Hof war Platt sprechen normal“, erklärt Physiotherapeutin Elisabeth.
Nach dem Einzug der Schwiegertochter sprachen auch die Großeltern wieder Platt. Dorothee und ihre Geschwister wuchsen so zweisprachig auf: Hochdeutsch mit dem Vater, Plattdeutsch mit der Mutter und den Großeltern. „Wir kamen mit vier Jahren in den Kindergarten“, sagt Dorothee Wullengerd. In der Zeit vorher festigte sich das Platt so, dass sie bis heute mit ihrer Mutter Platt sprechen – völlig automatisch. „Ich kann gar nicht anders“, sagt Dorothee. Vor ein paar Jahren probte sie gemeinsam mit ihrer Mutter für den Karnevalsverein einen Sketch auf Hochdeutsch. Die Regie musste sie immer wieder ermahnen, nicht ins Platt zu verfallen.
Als Kind war es den Schwestern manchmal peinlich, wenn die Mutter mit ihnen im Supermarkt Dialekt sprach und die Kassiererin verdutzt schaute. „Letztens habe ich unsere ehemalige Schwimmlehrerin getroffen. Sie dachte bei unserem ersten Treffen, wir wären Niederländer, bis ihr ein Wort auffiel, das sie als plattdeutschen Ausdruck erkannte“, erzählt Elisabeth Wullengerd.
Untereinander sprechen die Geschwister kein Platt. „Früher haben wir es wie eine Geheimsprache genutzt, wenn andere Kinder etwas nicht verstehen sollten“, erinnert sich Dorothee Wullengerd. Wenn sie und ihre Geschwister die Eltern besuchen, schallt ein Mischmasch aus Hoch- und Plattdeutsch durch die gute Stube. „Das Platt ist dabei ganz klar an Personen gebunden“, sagt die 37-jährige Elisabeth. Ein babylonisches Sprachgewirr gab es auf der Hochzeit ihrer Schwägerin mit einem Norweger in Dänemark.
Hausaufgaben auf Platt
„Na, wi wast inne Schaule?“, empfängt Dorothee Wullengerd ihren Sohn Johann. Während andere Kinder stutzen würden, antwortet er ihr sofort auf Hochdeutsch. „Wenn meine Mutter mich anspricht, muss ich nicht nachdenken. Ich kenne das nicht anders“, sagt der Neunjährige. Gemeinsam beugen sie sich über die Mathehausaufgaben. Sie erklärt auf Platt, er rechnet laut auf Hochdeutsch. „In der Nachbarschaft und Schule ist das bekannt“, schmunzeln beide.
Für Dorothees Mutter, die als Hebamme arbeitete, galt das Motto: „Kinder und Tiere verstehen alles.“ Diese Erfahrung teilen die Schwestern. „Als Kind sprach ich täglich Platt, später ist es etwas eingerostet“, sagt Dorothee. Als aber ihre erstes Kind geboren wurde, versucht sie die ersten Tage es auf Hochdeutsch anzusprechen. „Es fühlte sich nicht richtig an“, sagt sie. Seitdem spricht sie mit allen ihren Kindern Platt. Genau so geht es ihrer Schwester Elisabeth und ihren Geschwistern. Kurioserweise sprechen sie auch mit ihren Neffen und Nichten Platt. „Es hat sich mittlerweile verfestigt“, sind sich die Schwestern einig. Außerdem hat es Vorteile: Wörter wie „Dölmat“ oder „Appenass“ klingen nicht so hart, wenn sie mit ihren Kindern schimpfen. „Oder würden sie ihre Kind Affenarsch nennen?“ fragt Dorothee Wullengerd.
Weder lesen noch schreiben
Beide hören sofort, ob jemand von Geburt an Platt spricht oder es später gelernt hat. Selbst können sie es aber weder lesen noch schreiben. Bei einem plattdeutschen Abend des Bürgervereins lasen sie Gedichte vor. Sie mussten sie auf Hochdeutsch lesen und dann im Kopf simultan übersetzen.
Auch wenn sie selbst weder auf der Niederdeutschen Bühne noch im Heimatverein aktiv sind, finden sie es schön, dass es Menschen gibt, die das Platt weiterhin pflegen. Denn in der Familie Wullengerd wird es nach Elisabeth und Dorothee langsam aus dem Alltag verschwinden.
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