Als Lisa Westerwalbesloh abends die Tür öffnete, stand eine Frau im Rentenalter vor ihr. „Meine Kinder sind erwachsen und haben eigene Familien. Ich muss mich nicht mehr um sie kümmern. Jetzt kann ich mich um mein Leben kümmern. Ich muss da raus“, sagte sie. Sofort trat die Mitarbeiterin des Frauenhauses zur Seite und die Frau, die wir im Folgenden Petra nennen, trat ein.
Hohe Dunkelziffer
„Dieser Fall hat sich mir eingebrannt, weil er so exemplarisch ist“, erzählt Lisa Westerwalbesloh, die seit mehr als 30 Jahren im Frauenhaus im Kreis Warendorf arbeitet. Denn häusliche Gewalt kennt keine Altersgrenzen. „Unsere Bewohnerinnen sind zwischen 18 und 80 Jahre alt“, sagt sie. Auch seien alle Bildungs- und Einkommensschichten vertreten, bekräftigt Melanie Kayser, die als Diplom Pädagogin im Haus angestellt ist. „Häusliche Gewalt ist etwas, was wir durch die gesamte Gesellschaft hinweg beobachten.“ Das bestätigte auch Innenministerin Nancy Faeser, als sie im Juli den Lagebericht zur Häuslichen Gewalt vorstellte. 240 547 Menschen wurden 2022 Opfer häuslicher Gewalt – 8,5 % mehr als 2021. 71,1 % der Opfer waren Frauen. Grundsätzlich ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Denn nur Vorfälle, die zur Anzeige gebracht wurden, zählen in die Statistik hinein.
Es braucht viel Mut
Petra, die Frau, die im Kreis Warendorf vor der Tür des Frauenhauses stand, hatte über Jahre schwerste Gewalt erlebt – und stillschweigend ertragen. „Gerade wenn Kinder im Spiel sind, tuen sich die Frauen schwer, den gewalttätigen Partner zu verlassen“, berichtet Melanie Kayser und formuliert vorsichtig die Frage: „Ist es nicht besser ohne Vater zu wohnen als mit einem Gewalttätigen?“ Die Gründe, aus denen Frauen bei ihren prügelnden Partnern bleiben sind vielschichtig: Neben finanziellen, kulturellen oder religiösen Abhängigkeiten kann auch das Stockholm-Syndrom dahinterstecken. „Es braucht eine Menge Mut, um sich zu befreien“, sagt Lisa Westerwalbesloh.
Stockholm-Syndrom
Das Phänomen wurde 1973 in Stockholm während eines Banküberfalls mit sechstägiger Geiselnahme beobachtet. Die Geiseln kooperierten mit dem Täter und behinderten die Befreiung durch die Polizei. Eine Geisel verliebte sich später in den Täter und setzte sich dafür ein, die Bestrafung auszusetzen beziehungsweise das Strafmaß zu reduzieren. Fachleute führen dies auf die enge Bindung, die Abhängigkeit des Opfers von der Laune des Täters und Überlebensstrategie zurück. Die Opfer hoffen, verschont zu werden, indem sie den Täter gnädig stimmen und sich unterwerfen.
Ein Schlag und ich bin weg
Viele Frauen, die in dem 1980 gegründeten Frauenhaus Unterschlupf gefunden haben, erzählen, dass ihre Kinder nichts mitbekommen hätten. Lisa Westerwalbesloh, die im Frauenhaus die mit den Kindern arbeitet, hat andere Erfahrungen gemacht. Nicht selten erzählen die Kinder der Sozialpädagogin, was sie getan haben, wenn es zuhause zu Auseinandersetzungen kam: „Ich habe mich in der hintersten Ecke versteckt, ich habe mir die Bettdecke über den Kopf gezogen und und und.“
Doch bis sich Betroffene Hilfe holen, braucht es Zeit. Oft hört Melanie Kayser in privaten Gesprächen: „Wenn mein Partner mich schlagen würde, würde ich sofort gehen.“ Zu gerne würde die 49-Jährige das glauben: „Wie man tatsächlich in so einer Situation reagiert, ist nicht vorhersehbar, sondern zeigt sich erst dann.“ Erklärungsversuche wie: Er hatte einen harten Tag, das war nur ein Versehen oder Ähnliches sind, laut der Fachfrau, schnell gefunden: „Schließlich hat sich jede von ihnen mal in diesen Menschen verliebt. Aber Schläge haben mit Liebe nichts zu tun.“
Distanz schaffen
Verlässt eine Frau ihr zuhause, um der Gewalt zu entfliehen, erhält sie im Frauenhaus Schutz. Doch ein freies Zimmer zu finden ist gar nicht mal so leicht. Seit 2021 gibt es im Internet eine Karte, auf der freie Plätze mit Hilfe eines Ampelsystems angezeigt werden (siehe Kasten „Hier finden Sie Hilfe“). Die meisten Häuser stehen auf rot. Das heißt: Es ist keine Aufnahme möglich. Melanie Kayser rät dennoch: „Wenn Sie Hilfe suchen, fragen Sie trotzdem nach – es gibt immer weitere Optionen.“ Das gilt auch für den Fall, dass Geld fehlt, um überhaupt zum Frauenhaus zu gelangen. Sozialamt, Bahnhofsmission und andere Institutionen können helfen. „Häufig wollen die Frauen eine räumliche Distanz zwischen sich und den gewalttätigen Partner bringen“, weiß Melanie Kayser. Daher kommen nur wenige Bewohnerinnen aus dem Ort selbst. Einige kommen mit der Bahn im Stadtzentrum an. Dann müssen sie die letzten Kilometer mit dem Taxi weiter. „Wir sind das wohl ländlichste Frauenhaus in Nordrhein-Westfalen“, beschreibt sie. Drumherum gibt es nur ein paar Häuser und Höfe. „Damit die Frauen in die Stadt kommen, um Lebensmittel einzukaufen, haben wir Fahrräder und auch ein Auto“, erzählt Lisa Westerwalbesloh. Denn verpflegen müssen sich die Frauen selbst. „Wir bieten einen sicheren Platz, in dem die Frauen zur Ruhe kommen und Hilfe finden können“; erklärt sie. Therapien beinhaltet das nicht, wohl aber Beratung und Betreuung. „Stellen wir bei unseren Gesprächen fest, dass psychologische oder psychiatrische Probleme noch dazukommen, dann versuchen wir Ansprechpartner zu vermitteln“, sagt Melanie Kayser.
Sichere vier Wände
Jede Frau im Haus hat ein eigenes Zimmer. Bringen sie Kinder mit, bringen, leben sie dort zusammen. „Alle Bewohnerinnen des Hauses teilen sich drei Badezimmer und eine große Küche“, erzählt Melanie Kayser, „aber das klappt gut.“ Die Kosten für ihren Aufenthalt im Frauenhaus müssen die Hilfesuchenden selbst zahlen. „Eine Frau mit einem Kind zahlt bei uns für ein Zimmer rund 545 €pro Monat“, rechnet sie vor. Die Preise variieren je nach Frauenhaus. Doch nicht jede Frau kann das stemmen „Viele haben weder einen Job noch finanzielle Rücklagen und in einer solch emotional aufgewühlten Situation ist es schwer, eine neue Anstellung zu finden“, ergänzt Lisa Westerwalbesloh. Viele müssen Sozialleistungen beantragen. „Irgendwie gelingt es uns immer, die finanziellen Mittel aufzutreiben“, zeigt sich Melanie Kayser optimistisch.
Frauenhäuser: Noch zu wenige
Die Bundesregierung verpflichtet sich in der Istanbul-Konvention (2018) dazu, den Schutz von Gewalt betroffenen Frauen und deren Kindern auszubauen. Vorgesehen ist, dass auf 10 000 Einwohner ein Familienplatz für eine Frau mit 1,5 Kindern im Frauenhaus vorhanden ist. Für NRW hieße das: 1792 Plätze. Derzeit gibt es 676 landesgeförderte Schutzplätze für Frauen sowie 717 für Kinder. Versorgungslücken existieren auf dem Land sowie in den Ballungsräumen.
Taxifahrer verraten nichts
Das Frauenhaus im Kreis Warendorf liegt ländlich. Das hat seinen Vorteil: Die Adresse des Hauses bleibt deutlich länger geheim als in Städten. Die Menschen vor Ort wissen oftmals, wo ‘ihr’ Frauenhaus ist. Fragen ortsfremde Männer bei Taxifahrern oder an der Tankstelle nach, wird ihnen erfahrungsgemäß die Auskunft verwehrt. „Häufig melden die Gefragten das direkt der Polizei und warnen uns telefonisch, dass sich jemand nach uns erkundigt hat“, sagt Melanie Kayser. Gut klappe es auch mit den Nachbarn, die schon mal anriefen, wenn ein unbekanntes Fahrzeug länger vor dem Haus stünde. Denn das Schlimmste, was passieren kann ist, dass die Frauen gefunden werden. „Dennoch geschieht es hin und wieder“, sagt Lisa Westerwalbesloh. Dann sei besondere Vorsicht geboten. „Der gewalttätige Partner hat die Macht über sein Opfer verloren – ihm entgleitet die Kontrolle“, warnt Melanie Kayser.
Flucht nach der Schule
Vor ein paar Wochen, am ersten Schultag nach den Sommerferien, war es wieder mal der Fall: Der Junge, der seit vier Monaten mit seiner Mutter im Frauenhaus wohnte, kam freudestrahlend von seinem ersten Tag in der neuen Schule zurück. „Abends dann die erschütternde Nachricht: Sie waren gefunden“, erinnert sich Lisa Westerwalbesloh. Das hieß für Mutter und Sohn: Sachen packen und erneut flüchten – in ein anderes Frauenhaus. „Seine Mutter hatte Angst, hier zu bleiben“, ergänzt Melanie Kayser. Dabei gäbe es, rechtliche Möglichkeiten: Die Polizei kann Wegweisungen, Rückkehr- und Annäherungsverbote gegen den gewalttätigen Partner aussprechen. „Doch der Druck, der in solchen Situationen auf den Frauen lastet, ist enorm“, sagt Melanie Kayser, „dann bleibt nur die erneute Flucht.“
Petra musste nur einmal fliehen – an dem Tag, als sie vor ihrem gewalttätigen Ehemann, dem Vater ihrer Kinder weglief. Heute etwa 20 Jahre später lebt sie in einer eigenen Wohnung, im Kreisgebiet. Den Kontakt zu den Mitarbeiterinnen des Frauenhauses hält sie bis heute. Sie schaut vorbei oder hilft mit. Freunde, oder vielmehr: Frauen fürs Leben eben.
Hier finden Sie Hilfe!Bei aktuer Bedrohung wählen Sie die 110. Das bundesweite Hilfetelefon für Frauen ist unter 116016 immer erreichbar. Relevante Kontaktstellen für weibliche und männliche Opfer häuslicher Gewalt fasst die
Seite der Polizeilichen Kriminalprävention zusammen.
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