Pornografische oder gewaltverherrlichende Inhalte konnten sich Kinder und Jugendliche schon vor Jahren über das Internet anschauen. Das kann doch durch das Smartphone nicht so wahnsinnig viel schlimmer geworden sein, denkt so mancher Erwachsene. Sie sagen, doch! Was hat sich geändert?
Silke Müller: Natürlich gab es diese Inhalte auch früher schon. Der große Unterschied ist jedoch: Früher mussten die Schüler am Computer gezielt danach suchen. Durch Smartphones bekommen sie sie heute ungefragt und ungefiltert übermittelt: Fotos und Videos werden in Gruppenchats gepostet oder anonym über die sogenannte AirDrop-Technologie oder per Bluetooth auf die Geräte gespielt, sofern die Funktion aktiviert ist. Die Kinder sind neugierig und klicken darauf – auch wenn sie nicht wissen, wer sich hinter dem Nickname des Absenders verbirgt.
Was sind das für Bilder und Videos, die auf diese Weise die Runde machen?
Silke Müller: Ich habe in den vergangenen Jahren etliche Videos auf den Smartphones unserer Schüler gesehen. Wir haben eine eigene Digital-Sprechstunde eingeführt, in der wir Schülern die Möglichkeit geben, mit uns über Inhalte zu sprechen, die sie erhalten haben. Es gibt Bilder und Videos von bestialischer Tierquälerei, von Suiziden und Kriegsverbrechen. In meinem Buch erzähle ich von einem Fall, in dem vier Schülerinnen mir morgens vor dem Unterricht ein Video gezeigt haben, das im Schulbus per AirDrop bei ihnen auf dem Smartphone erschienen ist. In dem dreiminütigen Film ist detailliert zu sehen, wie ein Mann in einem Wohnzimmer kastriert wird. Seinen Schreien nach zu urteilen, wurde er vorher nicht narkotisiert. Für uns Erwachsene war es kaum auszuhalten, die Bilder zu sehen.
Was macht es mit Ihren Schülern, wenn sie derartig brutale Videos sehen?
Silke Müller: Das ist schwer zu sagen. Einige erzählen uns davon, dass sie Albträume haben. In dem beschriebenen Fall haben die Schülerinnen auf Nachfrage erzählt, dass sie solche Videos ständig bekommen und es sie oft schon gar nicht mehr interessiert. Sie haben das Video von ihren Smartphones gelöscht und sind anschließend in den Unterricht gegangen als wäre nichts geschehen. Das macht mich nachdenklich. Ebenso wie die Erkenntnis, dass die Kinder schnell ihre Stimme erheben, wenn einem ihrer Mitschüler Unrecht geschieht. Aber wenn sie Videos und sogenannte Sticker aufs Smartphone geschickt bekommen – oder auch selbst verschicken – in denen anderen Kindern großes Leid zugefügt wird, dann erhebt niemand seine Stimme. Zur Erklärung: Sticker sind kleine Bildchen, die als Emojis dienen und oftmals wie ausgeschnitten aussehen.
Sie spielen damit auf einen Fall an, in dem zahlreiche Schüler ihrer Schule einen kinderpornografischen Sticker auf ihren Smartphones hatten. Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden? Und was hatte das für die Schüler für Konsequenzen?
Silke Müller: Die Polizei rief in der Schule an und erkundigte sich nach einem unserer Schüler. Er hatte einem anderen Jungen einen kinderpornografischen Sticker geschickt. Darauf war ein Mädchen vermutlich im Grundschulalter zu sehen, das auf pinker Bettwäsche vergewaltigt wird. Die Mutter des Empfängers war entsetzt und ging mit ihrem Sohn zur Polizei. Denn schon der Besitz von kinderpornografischem Material ist strafbar. Der betroffene Schüler unserer Schule war 14, aufgeweckt und freundlich. Als wir ihn mit den Vorwürfen konfrontierten, sackte er förmlich zusammen und zeigte uns bereitwillig sein Smartphone. Unsere Recherchen ergaben, dass mindestens zehn weitere Schüler involviert waren. Als uns klar wurde, dass wir den Anfang der Sendekette nicht finden würden und vermutlich die halbe Schule den Sticker auf ihrem Smartphone hatte, stellten wir weitere Nachforschungen ein. Die Schüler wurden für einige Tage vom Unterricht suspendiert. Außerdem standen für sie Gespräche mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft an, die sie nachhaltig beeindruckt haben, wie sie uns später im Fürsorgegespräch erzählten.
Buchtipp:
Silke Müller ist Schulleiterin einer weiterführenden Schule in einer ländlichen Schule im Landkreis Oldenburg. In ihrem Buch beschreibt sie auf eindringliche Weise, wie gewaltverherrlichende und teils strafrechtlich relevante Fotos und Videos durch Smartphones heute zur Lebensrealität vieler Schülerinnen und Schüler gehören. Außerdem gibt sie Eltern Tipps, wie Sie Ihre eigene Medienkompetenz verbessern und ihre Kinder bestmöglich begleiten können.
„Wir verlieren unserer Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat! – von Silke Müller. Verlag Droemer Knaur, ISBN 978-3-426-27896-3, 20 €.
Welchen Rat geben Sie Eltern mit auf den Weg, wenn es um den sicheren Umgang ihrer Kinder mit dem eigenen Smartphone geht:
Silke Müller: Besorgen Sie Ihrem Kind so spät wie möglich ein eigenes Smartphone. Meiner Einschätzung nach sollten die Kinder mindestens 14 Jahre alt sein und vorher den Umgang mit dem Medium im geschützten Raum üben können. Beispielsweise mit einem Familiensmartphone, dass nur zu Hause im Wohnzimmer genutzt werden kann. Wollte ihr Kind ein Smartphone haben, machen sie klar, dass es gerade zur Schlafenszeit nichts im Kinderzimmer zu suchen hat. Dem Kind das Smartphone nachts zur freien Verfügung mit ins Zimmer zu geben, ist so als würden Sie die Haustür für jede erdenkliche Art von Verbrechern sperrangelweit offen stehen lassen. Dessen sollten Eltern sich bewusst sein.
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