Nur beißenden Spott hatte der französische Philosoph Voltaire (1694–1778) für die Bauernhäuser Westfalens übrig. Um 1760 schrieb er nach einer Reise durch „das weite, trostlose, unfruchtbare und schauerliche Westfalen“: „In großen Hütten, die man Häuser nennt, lebt eine Art von Tieren, die man Menschen nennt, in dem herzlichsten Beieinander mit anderen Haustieren (…). In ihren verräucherten Hütten (…) sind diese Menschen der Vorzeit gesund, kraftvoll und fröhlich …“
Zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Niederdeutschen Hallenhaus lädt die Interessengemeinschaft Bauernhaus (IgB) ein. Sie hat es zum „Bauernhaus des Jahres“ erklärt.
Alles im Blick
Damit richtet die IgB den Blick auch auf Zeitgenossen Voltaires, die mehr Verständnis für diese besondere Hausform aufbrachten. So veröffentlichte der Osnabrücker Staatsbeamte und Historiker Justus Möser (1720–1794) unter dem Titel „Die Häuser des Landmanns im Osnabrückischen sind in ihrem Plan die besten“ 1767 eine beeindruckende zeitgenössische Schilderung des Niederdeutschen Hallenhauses. Er schreibt: „Der Heerd ist fast in der Mitte des Hauses, und so angelegt, daß die Frau, welche bey demselben sitzt, zu gleicher Zeit Alles übersehen kann. Ein so großer und bequemer Gesichtspunkt ist in keiner anderen Art von Gebäuden. Ohne von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht die Wirthin zu gleicher Zeit drey Thüren, dankt denen, die herein kommen, heißt solche bey sich niedersetzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnet immerfort und kocht dabey.“
"Der Hof eines Colonen ist ein Palast"
Auch der Landwirt und Agrarschriftsteller Alexander von Lengerke (1802–1853) kam 1840 zu einem durchweg positiven Urteil über „die landwirtschaftliche Bauart Westphalens“: „Obgleich hier Menschen und Thiere unter einem Dache (…) bei einander wohnen, so ist es doch nicht ganz so arg, als man es manchmal geschildert hat, und noch weniger wahr, dass desfalls auch Schweine und Menschen aus einem Topfe speisen. Das Gesamte der Einrichtung hat vielmehr viel Zweckmäßiges und ist mit den geringsten Kosten verbunden. Das ganze Gebäude, welches Wohnung, Ställe, Scheune, Dreschtenne und Kornboden in sich hat, ist geräumig, hoch gestochen, durchaus luftig und gesund. Der Hof eines Colonen (= Bauern) ist ein Palast, wenn wir ihn mit den mulstrigen (= muffigen) Stuben (…) und den dumpfigen Ställen mancher andern Gegenden Preußens vergleichen.“
Und tatsächlich erreichen manche Bauernhäuser monumentale, wahrhaft palastartige Ausmaße. Das 1787 erbaute Haupthaus des Gräftenhofes Schulte Bisping aus der Bauerschaft Alst, Albersloh im Kreis Warendorf, das heute im LWL-Freilichtmuseum Detmold steht, ist 42 m lang und 15 m breit. Noch größer sind einige Sattelmeierhöfe im Ravensberger Land, etwa der 1812 erbaute Hof Ebmeyer in Oldinghausen bei Herford.
Fast sakraler Charakter
Durch die gleichmäßige Abfolge von tragenden Ständern und Balken, die mit gekehlten oder profilierten Kopfbändern verstrebt sind, erhalten Diele und Flett großer Hallenhäuser einen eindrucksvollen, fast sakral anmutenden Charakter.
Dagegen lebten Kötter und Heuerlinge, die ärmere Bevölkerungsmehrheit auf dem Lande, in sehr kleinen und bescheidenen Kotten, die vielfach tatsächlich „verräucherte Hütten“ waren.
Der Aufbau: Deele, Flett und Kammerfach
Der wichtigste und größte Raum in einem Hallenhaus ist die durch ein Tor im Giebel befahrbare Längsdiele (plattdeutsch: Deele) mit den seitlichen Kuh- und Pferdeställen. Das tragende Gerüst besteht aus zwei Reihen kräftiger Eichenständer, darüber sind in Querrichtung die schweren Deckenbalken verlegt, auf deren Enden die Dachsparren stehen. Im hinteren Bereich geht die Diele ohne trennende Wände in den Wohnteil des Hauses über. Dieser besteht aus dem Herdraum (Flett) mit der offenen, ursprünglich schornsteinlosen Feuerstelle im Zentrum.
Nur im Münsterland verbreiteten sich schon früh gemauerte Schornsteine mit dekorativen Sandsteinkaminen und Rauchfang (Bosen). Dahinter liegt das Kammerfach mit einer heizbaren Wohnstube und einigen Schlafkammern. Menschen und Vieh lebten in traditioneller Ordnung unter einem Dach.
Zwei, drei oder vier Ständer
Hallenhäuser sind in ganz Westfalen verbreitet, darüber hinaus vom Süden der Niederlande bis zum Nordwesten Polens und im Norden bis nach Schleswig-Holstein. Doch gibt es erhebliche regionale Unterschiede.
Nach der Zahl der dachtragenden Ständerreihen werden Zwei-, Drei- und Vierständerbauten unterschieden. Die häufigste Form ist der Zweiständerbau mit zwei tragenden Ständerreihen an der Diele und niedrigen Stallabseiten (Kübbungen).
Das älteste Zweiständergerüst in Deutschland wurde kürzlich in Talge im Osnabrücker Artland entdeckt und auf 1428 datiert. Noch ältere Hallenhäuser von 1386 und 1263 sind aus den Niederlanden bekannt.
Mehr Ständer
Seit dem 16. und 17. Jahrhundert verbreiteten sich Drei- und Vierständerbauten in Westfalen. Hier werden die beiden Dielenständerreihen durch ein oder zwei hohe, ebenfalls dachtragende Außenwände ergänzt. In der Regel sind die Deckenbalken auf die Dielenständerreihen aufgelegt. Nur im Westmünsterland kommt die Zimmerung mit durchgezapften Ankerbalken vor. Diese verbreitete sich aber erst seit dem frühen 17. Jahrhundert vom Niederrhein nach Westfalen.
Während im Münsterland schon früh Ziegeldeckung und Backsteinausfachung aufkamen, waren im Norden, Osten und Süden Westfalens Strohdächer und weiß gekalkte Lehmgefache üblich.
Prächtige Torbögen
In Lippe oder im Ravensberger Land, aber auch im Hochstift Paderborn oder im Sauerland gibt es prächtige Dielentorbögen, die mit Inschriften und bunt bemaltem Rankenwerk beschnitzt sind.
Neben schlichten Brettergiebeln, die im 16. Jahrhundert von profilierten Knaggen abgestützt wurden, kommen auch mehrstöckige Fachwerkgiebel vor. Die meisten Hallenhäuser waren Fachwerkbauten, der massive Backstein- oder Bruchsteinbau verbreitete sich erst nach etwa 1850–1870.
www.igbauernhaus.de
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