Sein Mitarbeiter hat sie sogar gesehen: die Rakete. Dietrich Treis, der gerade im Büro saß, hat nur ihr Zischen gehört, als sie flach über den Betriebshof des Ackerbaubetriebes in Korzhi, rund 70 km östlich von Kiew, flog. Seit einem Jahr befindet sich der 4500 ha große Betrieb, den der gebürtige Nordhesse seit 2017 leitet, im Kriegsgebiet Ukraine.
„Zu Beginn des Krieges hatten die Russen versucht, Kiew einzukreisen“, berichtete der 57-Jährige kürzlich auf einer Veranstaltung in Steinhagen-Brockhagen, Kreis Gütersloh. Die Bilder der russischen Militärkonvois, die sich auf den Hauptzufahrtsstraßen von Norden bzw. Osten der Hauptstadt der Ukraine näherten, gingen um die Welt. „Russische Panzer waren keine 5 km von unserem Feld entfernt“, so Treis. „Doch die Konvois kamen ins Stocken, weil die Ukrainer Brücken gesprengt und einen Fluss aufgestaut hatten“, erzählt der Landwirt. Dadurch wurden die Flächen abseits der Straßen sumpfig, die russischen Militärkonvois ausgebremst.
Plötzlich Flüchtling
Treis selbst wurde mit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 zum Flüchtling. Mit dem Auto schlug er sich über Rumänien und die Karpaten, Ungarn und Polen in Richtung Berlin durch, wo er am 26. Februar abends ankam. Seine Familie – Treis hat eine Ukrainerin zur Frau und zwei gemeinsame Kinder – war zum Glück bereits in Deutschland. „Die Kinder gehen normalerweise auf eine deutsche Schule in Kiew und hatten gerade Schulferien.“
Zurück in die Ukraine
Im Mai kehrte er in die Ukraine zurück. Hatte er zuvor mit seiner Familie in der Hauptstadt gewohnt, hat er nun sein Quartier auf dem Betriebshof. Obwohl er als Betriebsleiter zunächst nur aus der Ferne agieren konnte, lief die Frühjahrsbestellung seinen Angaben zufolge nahezu normal ab. Auf die rund 80 Mitarbeiter lässt er kein schlechtes Wort kommen. „Ein Mitarbeiter informierte mich sogar, dass er extra das Hofschild an der Straße abgeschraubt habe, um für die Russen möglichst unentdeckt zu bleiben“, berichtet Treis. Drei Mitarbeiter wurden in den Kriegsdienst einberufen; zudem sieben Betriebsfahrzeuge (drei Pkw, vier Lkw) für die ukrainische Armee eingezogen.
2200 ha Mai
Als Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten hat sich der Anbauplan von einem Jahr zum anderen komplett verändert. 2022 wurden auf den Sand- und Schwarzerdeböden des Betriebes folgende Kulturen angebaut: knapp 2200 ha Mais, gut 1100 ha Sonnenblumen, jeweils gut 610 ha Raps und Weizen sowie gut 110 ha Roggen.
Herausforderung Wetter
Trotz Krieg sei die größte Herausforderung das Wetter gewesen, informiert Treis: Der Mai war zu kalt, der Juni zu heiß und dann kam der Regen mit all seinen negativen Folgen für die Ernte. „Im ganzen September konnten wir keine Sonnenblumen ernten und waren erst am 20. Oktober damit durch.“ Und Anfang Januar dieses Jahres standen noch 300 ha Mais auf dem Feld. „Normalerweise beenden wir die Maisernte Ende November.“ Probleme bereiten seit Oktober die stark zugenommenen Energie- und Stromausfälle. „Kriegsbedingt hat unser Betrieb 50 % seiner Trocknungskapazität verloren.“
Negative Auswirkungen hat der Krieg zudem für die Vermarktung. „Die Preise für Agrarprodukte sind in der Ukraine gesunken“, berichtet der Landwirt. „Saatgut und Diesel sind zu bekommen; schwieriger ist es bei Ersatzteilen.“
Mehr Weizen, mehr Raps
Da der Maisanbau zu großen Erntemengen führt, was in der aktuellen Lage die Situation erschwert, sehen die Anbauverhältnisse im laufenden Wirtschaftsjahr komplett anders aus als 2022. Auf 1150 ha wurde Weizen ausgesät, auf gut 800 ha Raps, dafür kein Roggen. „Bei Raps fallen nicht so große Erntemengen an. Die aktuelle Ernte haben wir zum Teil per Lkw in Bigbags nach Deutschland vermarktet.“ Doch auch das ist teuer und an den Grenzen kann es zu Wartezeiten von bis zu zehn Tagen kommen.
Zehnfache Menge auf dem Landweg
Dennoch habe sich die Transportmenge der Ukraine auf dem Landweg, bezogen auf den Zeitraum Juli bis November, von 2021 zu 2022 verzehnfacht – von 0,6 Mio. t auf 6 Mio. t, während sich die Mengen auf dem Seeweg nahezu halbiert haben – von knapp 29 Mio. t auf rund 15 Mio. t. Nur drei von vier Häfen seien geöffnet. Zudem würde die Verladung durch Kontrollen Russlands verzögert. Stromausfälle führten zu zusätzlichem Stillstand.
Sparsame Aussaat
Durch den Krieg könnte die Infrastruktur weiter leiden. „Beim Weizen fahren wir daher ein reduziertes Programm“, erzählt der passionierte Landwirt. Die Aussaatstärke wurde verringert, um gegebenenfalls mit weniger Dünger auskommen zu können. Mit vielen Fragezeichen behaftet ist noch die Aussaat von Mais und Sonnenblumen im Frühjahr. „Der aktuelle Stand ist, dass wir wohl aussäen werden. Wir bestellen zumindest jetzt das Saatgut“, so Treis.
Schützengräben auf den Feldern
Allerdings wird der Mais anstatt der Hälfte der Fläche nur gut ein Viertel einnehmen. Bei den Sonnenblumen soll es bei der Anbaufläche auf dem Stand der Vorjahre bleiben. Sollte die Lage eskalieren, bestünde immer noch die Option, ganz oder teilweise nicht auszusäen. „Eventuell werden wir Felder im Frühjahr auch gar nicht einsäen, falls wir die Ernte 2022 nicht vermarkten können und das Silo nicht leer wird.“ Durch einige Felder ziehen sich derzeit Schützengräben. „Ich hoffe, dass wir diese irgendwann wieder zumachen können.“
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