Im Dorf, vor der Wahl

Auffallend viele Medien berichten derzeit über die Menschen auf den Land und über die Problemlagen in der „Provinz“. Manche entdecken erst jetzt: Der ländliche Raum stellt die Mehrheit – auch bei der Bundestagswahl.

Auffallend viele Medien berichten derzeit über die Menschen auf den Land und entdecken die Problemlagen in der „Provinz“. Manche entdecken erst jetzt: Der ländliche Raum stellt die Mehrheit der Bevölkerung – und der Wähler bei der Bundestagswahl.

Wie geht die Bundestagswahl aus? Diese Frage werde nicht zuletzt auf dem Land entschieden, in den Dörfern und Kleinstädten, urteilte kürzlich die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ und merkte selbstkritisch an: „Mehr als die Hälfte der Deutschen lebt fernab der großen Städte. Es sind Millionen Menschen, die Journalisten und Hauptstadtpolitiker zu oft aus den Augen verlieren.“

O-Ton aus dem Dorf?

Tatsächlich haben Zeitungs-, Wochenzeitungs- und Rundfunk-Journalisten ihre Umfragen und O-Töne lange Zeit nur in Berlin „Unter den Linden“, auf der Domplatte in Köln oder an den Landungsbrücken in Hamburg zusammengetragen und das schon für die ganze Wahrheit gehalten. Die Mühe, eine Kleinstadt oder ein entlegenes Dorf aufzusuchen, machten sich nur wenige.
Das hat sich gründlich geändert. Dazu beigetragen haben der Ausgang des Brexit-Referendums in Groß­britannien und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten – zwei Ereignisse, die stark vom Votum der ländlich geprägten Regionen beeinflusst worden sind.

Viele journalistische Beobachter waren von diesen Entscheidungen vollkommen überrascht. Sie mussten bekennen, dass sie ihren Blick zu sehr auf die Metropolen gerichtet hatten und darüber Konflikte und Problemlagen in der Provinz aus dem Blick verloren haben.

Viele Projekte

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass viele Medien hierzulande gerade „das Dorf und das Land“ entdecken – und vor den Bundestagswahlen sehr intensiv erkunden:

  • Die Zeit sandte kürzlich 16 junge Reporter nach Werpeloh in Niedersachsen und beschrieben die Menschen und ihre Probleme „in einem gewöhnlichen deutschen Dorf“.
  • Die Berliner Tageszeitung unternahm eine ganzjährige Entdeckungstour durch „Mein Land“, die vor wenigen Tagen zu Ende ging. „Wir wollten fernab der ,Großstadtblase‘ Menschen und ihre Lebensrealitäten zu Wort kommen lassen und Antworten finden“, hieß es dazu resümierend.
  • Der Privatsender RTLquartierte ein Reporterteam für Wochen in eine Land-WG in Rinteln in Niedersachsen ein – in die „Wahlstadt“, wie der Sender erläuterte: „Vieles hier entspricht dem statistischen deutschen Mittel.“
  • Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte erst vor wenigen Tagen ein chices Sonderheft mit dem Themenschwerpunkt „Raus aufs Land“ und erläutert: „Die Städte werden immer öder. Freiheit, Fortschritt und Lebenslust finden wir nur noch auf den Dörfern.“

Noch nicht mitgezählt sind hier die Journalisten, die in jüngster Zeit durchs Land gewandert sind und mit „normalen Leuten“ gesprochen haben. Ihre Bücher tragen Titel wie

  • „Heimaterde – eine Weltreise durch Deutschland“ vom freien Journalisten Lucas Vogelsang,
  • „Zu Fuß durch ein nervöses Land“ vom WDR-Journalisten Jürgen Wiebicke, oder
  • „Deutschland ab vom Wege“ von Henning Sußebach, Redakteur bei „Die Zeit“ in Hamburg.

Auch die „Süddeutsche Zeitung“ befasste sich kürzlich ausführlich mit der Lage auf dem Land. „Vielerorts in Deutschland verludern die Ortskerne, sie müssen wiederbelebt werden“, befindet der Journalist Heribert Prantl. Und weiter: „Die Menschen brauchen eine wohnungsnahe Rundumversorgung. Jeder zehnte Einwohner Deutschlands kann Brot und Milch nicht mehr zu Fuß einkaufen, weil der nächste Laden zu weit entfernt ist.“

Was tun gegen „provinzielle Depression“?

Prantl fordert: „Öffentliche Verkehrs­anbindungen müssen funktionieren, Schulen müssen zu neuen Mittelpunkten des Miteinander- und Voneinander-Lernens umgestaltet werden. Medizinische Betreuung und Pflege müssen neu konzipiert und ausgebaut werden. Der Kampf gegen den Rechtsextremismus ist auch ein Kampf gegen die provinzielle Depression.“

Kern des Problems sei die Frage, „wie man junge Menschen zum Bleiben oder, noch besser, zur Rückkehr bewegt“. Die Entvölkerung ländlicher Räume sei kein Naturgesetz, sondern eine Folge dessen, dass Arbeit und Leben auf dem Land nicht oder zu wenig vereinbart werden können.“

Unter dem Strich gilt das Land in den Medien derzeit nicht (mehr) als „Durchfahrtsraum“ oder als „Durchlauferhitzer“, seine Bevölkerung nicht als „abgehängt“ oder gar „unwichtig“. Die breite Berichterstattung in den Medien zwingt die politischen Gremien auf allen Ebenen, genauer hinzuschauen, auf die Fragen des ländlichen Raumes Antworten zu entwickeln und zu handeln – wie auch immer die Bundestagswahlen ausgehen. Gisbert Strotdrees