Wenn sich Herzenstüren öffnen

Der Heilige Nachmittag war in meinem Elternhaus bei aller Geschäftigkeit, bei allem Hin und Her dieses Tages, eine Zeit der geschlossenen Tür.

Die eine, die alles entscheidende Tür des Weihnachtszimmers öffnete sich ja erst nach endlosen Stunden Wartens, die uns Kinder wie in Zeitlupe noch einmal die ganze Vorfreude, Spannung und Ungeduld des zu Ende gehenden Advents erleben ließen.

Sehnlichst auf Einlass hoffen und doch immer neu in Gedanken, mit verstohlenen Blicken und manchmal auch mit buchstäblich platt gedrückter Nase vor verschlossener Tür stehen – wie Maria und ­Joseph vor den Wirtshäusern von Bethlehem. Wie gut wir Kinder es der Heiligen Familie nachempfinden konnten!

Da mochten wir in den Wochen zuvor selbst noch so viele Türchen aufgetan und ihre süßen Geheimnisse entdeckt haben. Die eine, die alles entscheidende Tür blieb zu. Sie musste von innen geöffnet werden.

Von solch einer ­inneren Öffnung berichtet auch eine Geschichte über das erste Lied im Evangelischen Gesangbuch, „Macht hoch die Tür“, das der Königsberger Pfarrer Georg Weissel im Advent 1623 für die Einweihung einer Kirche dichtete: „Er ist die rechte Freudensonn, bringt mit sich lauter Freud und Wonn.“ Ein Festtag und ein Festtagslied für die Gemeinde und die Stadt.

Ein Jahr später, im Advent 1624, war Alltag eingekehrt. Ein Wegestreit schwelte und die Kirche mittendrin. Nah bei der neuen Kirche lag nämlich ein Armen- und Siechenhaus und dazwischen das Anwesen des reichen Kaufmanns Sturgis. Der hatte kurz zuvor das stattliche Haus an der Kirche gekauft, konnte sich aber mit der Nachbarschaft der Behinderten nicht abfinden und schon gar nicht ertragen, dass sie humpelnd und sabbernd durch seinen Garten zur Kirche gingen. Er verbot kurzerhand den althergebrachten Kirchweg über sein Grundstück und ließ ein schweres Eisentor bauen, wo bisher die Armenhäusler zum Gottesdienst gegangen waren.

Im Advent war der Kirchenchor wie gewöhnlich bei einem reichen Bürger zum Adventslieder-Singen geladen. In diesem Jahr war Sturgis an der Reihe. Als der in Erwartung der Sänger aus dem Fenster schaute, sah er den Chor aus Richtung des Armenhauses kommen und vor dem Tor haltmachen. Er ging nach draußen, und als man ihn kommen sah, trat der Chor beiseite, gab den Blick frei auf die mitgebrachten Armenhäusler und fing an zu singen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, euer Herz zum Tempel zubereit.“ Bei dieser Zeile griff Sturgis in die Manteltasche und schloss das Tor auf, das seitdem – so heißt es – nie wieder geschlossen wurde. Dann bat er die Leute in sein Haus. Alle.

Wo sich Herzenstüren öffnen, sind auch vermauerte Grenzen und schwere Eisentore keine Hindernisse mehr. Aber wie schwer ist es, bis zu dieser Tür zu kommen. Das wissen gerade die, denen das Leben das Herz schwer und hart gemacht hat. Es lässt sich nicht erstürmen, das Herz. Mit aller Macht der Welt ist ihm nicht beizukommen, befehlen kannst du ihm gar nichts; dem eigenen am allerwenigsten.

Aber wenn da einer käme, der uns aufschließen, uns anrühren könnte, der so voll Liebe wäre, dass er sich schwach und verletzlich zeigen könnte, dann ... ja, dann könnte wirklich alles anders werden. „Heut“ – so dichtet Nikolaus Herman in seinem Weihnachtschoral – „heut schließt Gott wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis!"