Adelheid Lackmann ist 95 Jahre alt, als sie an einem großen Darmtumor operiert wird. Den zweistündigen chirurgischen Eingriff erlebt sie bei vollem Bewusstsein. Ein spezielles Narkoseverfahren, eine Form der Regionalanästhesie, macht das möglich. Im Gegensatz zur Vollnarkose beeinträchtigt die Regionalanästhesie das Bewusstsein nicht. „Es werden lediglich das Schmerzempfinden und die Bewegungsmöglichkeit in nur einer bestimmten Körperregion für gewisse Zeit ausgeschaltet“, erklärt Dr. Mario Santamaria, Anästhesist am St. Marien-Hospital in Lüdinghausen, Kreis Coesfeld.
Die Patienten bleiben wach und ansprechbar (siehe weiter unten „Regionale Betäubung“). Der entscheidende Vorteil: „Es kann auf Schlaf-, Beruhigungs- und Narkosemittel verzichtet werden, die bei Delir gefährdeten Patienten das Risiko für Verwirrtheitszustände nach einer Operation erhöhen“, informiert Dr. Mario Santamaria. Die Gefahr eines Delirs bei älteren Menschen sei bei dieser Anästhesiemethode nachweisbar deutlich geringer.
Ältere Menschen sind gefährdeter
Bei einem Delir sind Patienten plötzlich verwirrt, orientierungslos und wesensverändert (siehe „Das Delir“). Laut Ärzteblatt ist jeder zweite über 70-Jährige, der im Rahmen eines größeren Eingriffs an einer inneren Erkrankung operiert wird, davon betroffen. Je länger ein Delir anhält, desto häufiger kommt es zu Komplikationen wie Stürzen. Trotz erfolgreicher Operation werden einige Betroffene dauerhaft zum Pflegefall. Bleibt ein Delir bestehen, kann sich in der Folge eine Demenz entwickeln. „Ein Delir ist ein Moment, der den Patienten auch das Leben kosten kann“, sagt Dr. Walther Engels, Chirurg am St. Marien-Hospital in Lüdinghausen.
Das Delir
Beim Delir sind Wahrnehmung und Aufmerksamkeit des Menschen gestört. Patienten reagieren oft unkooperativ, verhalten sich hyperaktiv und aggressiv oder sind apathisch und verlangsamt. Auslöser für ein Delir können neben Flüssigkeitsmangel und akuten Infektionen bestimmte Medikamente sein, wie etwa Schlafmittel oder Präparate zur Behandlung von Depressionen. Eine Operation als solche, Blutarmut sowie das Narkoseverfahren und die -dauer begünstigen ebenfalls ein Delir. Zu den Risikofaktoren zählen aber auch das Alter, ein schlechter körperlicher Allgemeinzustand, Alkoholkonsum sowie Vorerkrankungen, die die Hirnleistung beeinträchtigen, wie Demenz, Parkinson oder Schlaganfall. Auch eingeschränktes Sehen und Hören können ein Delir begünstigen.
Um Risiken eines Delirs zu verhindern, gibt es in einigen Kliniken ein umfangreiches Delirmanagement. Dieses habe man am St. Marien-Hospital bisher jedoch noch nicht in der perioperativen Patientenbetreuung, also im zeitlichen Umfeld eines chirurgischen Eingriffs, wie der ärztliche Direktor Dr. Mario Santamaria erklärt.
Dennoch gibt es bei vielen planbaren, zeitlich begrenzten Operationen sowie bei dafür geeigneten Patienten die Möglichkeit im St. Marien-Hospital, Maßnahmen zur Vorbeugung eines Delirs umzusetzen. „Nicht nur die frühzeitige und enge Absprache zwischen Narkosearzt und Chirurg ist wichtig“, erklärt Dr. Santamaria. Auch ist der Zeitaufwand für Aufklärung und Betreuung des wachen Patienten während der OP größer als bei einer Vollnarkose.
Auswahl der Patienten
„Zunächst erfragen wir in einem Patientengespräch mögliche Risiken wie Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen etwa der Lunge oder des Herz-Kreislauf-Systems“, erklärt Dr. Walther Engels. Von Bedeutung ist auch, ob jemand nach einer Narkose schon einmal mit Verwirrtheit reagiert hat. Delir gefährdete Menschen können von einer Regionalanästhesie profitieren. Doch auch der Patient muss dafür geeignet und dazu bereit sein.
„Patienten müssen wissen, dass sie während der OP bis zu zweieinhalb Stunden auf dem Rücken liegen und alles mitbekommen“, erklärt Narkosearzt Santamaria. Außerdem könne unter regionaler Betäubung kein minimal-invasiver Eingriff erfolgen, sondern nur eine offene Operation mit größerem Hautschnitt.
Bei Adelheid Lackmann ist die Operation gut verlaufen. „Wir konnten die Patientin nach der Operation sehr schnell wieder mobilisieren und nach sieben Tagen in die Fürsorge ihrer Tochter entlassen“, berichtet Dr. Walther Engels.
Regionale Betäubungsverfahren
Es gibt verschiedene Narkoseverfahren. In der Allgemeinen Anästhesie, der Vollnarkose, werden Menschen durch Gabe bestimmter Medikamente in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Sie verlieren dabei das Bewusstsein und die Schmerzempfindung.
Im Gegensatz dazu wirkt eine Regionalanästhesie nur in einer bestimmten Körperzone. Dazu wird ein örtliches Betäubungsmittel in die Nähe schmerzleitender Nerven gespritzt. Das unterbindet die Weiterleitung von Schmerzen aus dem Operationsgebiet zum Gehirn für meist mehrere Stunden. Die betäubten Körperbereiche können nur wenig oder gar nicht bewegt werden. Der Patient bleibt wach. Falls erforderlich, kann die Narkoseform jederzeit der Situation angepasst und um eine Vollnarkose erweitert werden.
Zur Betäubung der unteren Körperhälfte, wie dem Darm, eignen sich rückenmarksnahe Regionalanästhesien.
- Bei der Spinalanästhesie spritzt der Arzt im Bereich der Lendenwirbel ein lokales Betäubungsmittel direkt in das Nervenwasser.
- Bei der Periduralanästhesie (PDA) setzt der Narkosearzt einen kleinen Plastikkatheter außerhalb der Rückenmarkhülle in Höhe der Brust- oder Lendenwirbel. Hierüber kann er lokale Betäubungsmittel und andere schmerzstillende Medikamente verabreichen. Zur Schmerzbehandlung kann der Katheter nach der Operation noch einige Tage liegen bleiben.
Die beiden Verfahren sind auch miteinander kombinierbar. Über mögliche – auch schwere – Komplikationen der Anästhesien, die äußerst selten auftreten, werden die Patienten vorab aufgeklärt.
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