Allein in NRW leben fast 1,2 Mio. pflegebedürftige Menschen. Angehörige spielen meist eine wichtige Rolle bei ihrer Versorgung und Betreuung. Doch wohnen Kinder weit entfernt oder gibt es keine Angehörigen, die die häusliche Pflege übernehmen oder sich um Hilfe- und Unterstützungsangebote kümmern können, wird es schwierig.
Die beiden Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz Münster und westliches Münsterland sowie Münsterland stellten auf einer Fachtagung im Rochus-Hospital Telgte unter anderem innovative Konzepte und Beispiele aus der Praxis vor. Drei der Projekte haben wir uns näher angeschaut.
1. Pflegefamilie statt Heim
Interessant ist beispielsweise die gemeinnützige GmbH „Herbstzeit“ aus Baden-Württemberg, die seit 2008 pflegebedürftige und alterspsychiatrisch erkrankte Menschen in Pflege- bzw. Gastfamilien vermitttelt und sie beim Zusammenleben begleitet.
„Derzeit haben wir 45 Bewohnerinnen bzw. Bewohner in Gastfamilien vermittelt. Die Familien müssen ein freies Zimmer zur Verfügung stellen und im Ortenaukreis oder Landkreis Emmendingen wohnen“, erklärt Heike Schaal, Mitgründerin und Geschäftsführerin der Gesellschaft.
Als Gast- oder Pflegefamilie kommen neben Familien auch Paare, Alleinerziehende oder alleinstehende Personen infrage. Pflegeerfahrungen sind nicht unbedingt erforderlich, liegen jedoch bei 80 bis 90 % der Familien vor. „Die Gastfamilien können einen Pflegedienst dazu holen, tun dies aber oft nicht“, so Heike Schaal. Wichtig ist, dass sich eine Person um die Betreuung und Pflege kümmern kann, sodass eine anderweitige Vollzeitbeschäftigung ausgeschlossen ist.
Die Bewohner sollen sich in den Gastfamilien wie zu Hause fühlen. Wichtig sei, dass im Vorfeld geschaut wird, wer zu wem passt. Vorab wird beispielsweise ermittelt, ob die Wohnung barrierefrei ist, ob Hilfsmittel erforderlich oder Haustiere erwünscht sind. Es werden aber auch die Bedürfnisse der Pflegefamilie erfragt.
Zunächst Probewohnen
Der Fachdienst „Herbstzeit“ vermittelt Menschen ab Pflegegrad II. In der Regel sind die Menschen älter als 65 Jahre. Auch Menschen mit Demenz können aufgenommen werden. Bei einem ersten Kennenlernen durch zwei Mitarbeiter des Herbstzeit-Teams werden die Bedürfnisse und Wünsche des zukünftigen Bewohners erfragt. Auf Wunsch werden Angehörige bei der Auswahl der Gastfamilie mit einbezogen.
Nach einer Phase des Kennenlernens erfolgt dann ein Probewohnen für zwei bis drei Wochen, danach erst die endgültige Aufnahme. In einer Betreuungsvereinbarung werden die wesentlichen Bereiche von Versorgung, Pflege und Betreuung festgelegt.
Begleitung durch Herbstzeit
Mitarbeiterinnen von Herbstzeit erledigen in Absprache alles, was mit der Pflegekasse zu tun hat und organisieren Entlastungs- und Unterstützungsangebote. Sie halten den Kontakt etwa zu rechtlichen Betreuern, sind im Notfall am Wochenende oder abends erreichbar und übernehmen notfallmäßig auch einmal die Fahrt zum Arzt. „Auch besuchen wir die Gastfamilien und pflegebedürftigen Bewohner regelmäßig und getrennt voneinander, um auftretende Fragen und Probleme zu besprechen“, informiert Heike Schaal.
Die Gast- bzw. Pflegefamilie erhält für die Betreuung eine monatliche Aufwandsentschädigung. Darin enthalten sind die Kosten für Verpflegung und Versorgung, Wohnen und Betreuung. Zusätzlich werden Leistungen der Pflegeversicherung als Geld- oder Sachleistung gewährt. Pflegebedürftige Bewohner in den Pflegefamilien müssen derzeit mit Kosten von etwa 2000 € monatlich rechnen, die sie aus eigener Tasche aufbringen müssen.
Infos unter www.herbstzeit-bwf.de
2. Berliner Hausbesuche
In Berlin ist 2021 ein Projekt gestartet, das sich an Menschen ab 70 Jahren richtet. Es ist ein niedrigschwelliges Angebot für Menschen ohne Erkrankung oder Gefährdung, das frühzeitig und vorsorgend auf vorhandene Unterstützungsangebote „Rund ums Alter“ aufmerksam macht.
Senioren können sich dazu kostenfrei an speziell dafür geschulte „Lotsinnen und Losten“ des Malteser Hilfsdienstes wenden. Diese informieren über allgemeine Ansprüche im Alter, über Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe sowie über vielfältige Angebote der Gesundheitsförderung.
Bei sich abzeichnendem Pflegebedarf klären sie über Möglichkeiten eines Pflegegradantrages auf, über Fördermöglichkeiten eines barrierefreien Ausbaus der eigenen Wohnung sowie über weitere Unterstützungsmöglichkeiten. Der präventive Hausbesuch übernimmt keine spezifischen Beratungsleistungen, sondern informiert darüber, wo entsprechende Beratungs- und Unterstützungsstrukturen zu finden sind. Wenn gewünscht, stellen die Losten Kontakt zu den Angeboten her.
„Die Seniorinnen und Senioren rufen zunächst bei uns an und wir schauen, welche Angebote es in dem Bezirk gibt“, schildert Judith Demuth, Projektleiterin der Berliner Hausbesuche beim Malteser Hilfsdienst, das Prozedere. Anschließend kommt eine Lotsin/ein Lotse zum Hausbesuch. „Das Projekt wird finanziert und begleitet von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege (SenWGP) in Berlin“, informiert Stefanie Emmert-Olschar von der SenWGP. Infos unter www.berlin.de/sen/pflege/grundlagen/80plus/aktuelles/
3. Rehabilitative Pflege
In der vollstationären Versorgung ihrer Häuser „Ruhrgarten“ und „Ruhrblick“ arbeitet die Evangelische Altenpflege Mülheim an der Ruhr nach einem Pflegemodell, das therapeutische Pflege und rehabilitative Maßnahmen zusammenbringt. Ziel ist es, dass Bewohner ihre Selbstständigkeit wiedererlangen, psychisch stabilisiert werden und weitere Verschlechterungen so lange wie möglich vermieden werden. „10 bis 15 % der Bewohner schaffen den Weg auch wieder nach Hause“, sagt Oskar Dierbach, ehemaliger geschäftsführender Pflegedienstleiter.
Über Angebote wie Motopädie, Musik- und Kunstgeragorik hole man die Menschen aus ihrer Isolation heraus. Ergo- und physiotherapeutische Maßnahmen werden zusätzlich zu den vom Arzt verordneten Therapien durch externe Therapeuten angeboten. Es werde gezielt mit den Bewohnern an bestehenden Defiziten gearbeitet. „Die Rehamaßnahmen laufen nicht nebenher, sondern werden in der Pflege integriert“, so Dierbach.
Beispielsweise ist Bewegung ein wichtiger Bestandteil in der therapeutischen Pflege, um Mobilität und Alltagskompetenzen zu steigern. Über steuerbare, therapeutische Lichtdecken in den Tagesräumen werde therapeutisches Licht gezielt zur Stabilisierung eines gesunden Tag-Nacht-Rhythmus eingesetzt. Das wirke auch einem Lichtmangel und damit verbundenen möglichen depressiven Verstimmungen entgegen.
Um das Konzept umzusetzen, brauche es mehr Pflegefachkräfte und mehr Therapeuten in der Pflegeeinrichtung, was die Pflege teurer mache. „Wir sind 8,5 % teurer als unsere Mitbewerber, dafür haben wir 15 % mehr Pflegepersonal“, informiert Oskar Dierbach. Doch am Ende werde es günstiger, weil diese Form der Versorgung Entlassungen ermögliche. Man spare auch bei den Bewohnern, die bleiben oder in andere Einrichtungen gehen, weil sie weniger Krankenhausaufenthalte haben oder weniger Medikamente benötigen.
Für vier Jahre werden nun in zwölf weiteren Einrichtungen Teile der Arbeit umgesetzt,wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Damit soll gezeigt werden, dass es Sinn macht, die Trennung zwischen Kranken- und Pflegeversicherung ein Stück aufzubrechen und zusammenzubringen. Für Pflegebedürftige bedeute das häufig mehr Lebensqualität und mehr Selbstbestimmtheit. Infos unter www.haus-ruhrgarten.de/pflege-therapie-betreuung-1
Freunde als Pflegende?
Welche Rolle können sorgende Freunde als Familienersatz für alleinlebende Menschen spielen? – damit hat sich Dr. Janosch Schoblin von der Universität Kassel wissenschaftlich beschäftigt. In diesem Zusammenhang war auch die „häusliche Pflege“ ein Thema. Wie die Auswertung der Daten des sozioökonomischen Panels aus dem Zeitraum 2002 bis 2021 ergaben,
- ist die häusliche Pflege allein durch Freunde ziemlich selten. Sie lag in dem Zeitraum zwischen 2,7 bis 7,9 %;
- lag der Anteil an häuslicher Pflege, an der sich Freunde beteiligten, mit 10,8 bis 23,3 % etwas
höher und
- kam die Pflege durch Freunde und professionelle Dienste mit 5,1 bis 7,9 % praktisch fast nur bei alleinlebenden Menschen vor. Insbesondere an der leibesbezogenen Pflege, wie Waschen, Kämmen, Hilfe bei Stuhlgang usw., waren Freunde relativ selten beteiligt, informierte Dr. Janosch Schobin.
Sein Fazit: „Freunde sind eine schlecht zu fördernde Ressource.“ Zu hoch seien in der Praxis oftmals die Hürden. Viele „sorgefähige“ Freunde ständen für die Unterstützung in der häuslichen Pflege nicht zur Verfügung, etwa weil sie dazu nicht bereit oder nicht in der Lage sind.
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