Niemals wäre es Janina Hölzle in den Sinn gekommen, dass sie ein Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) hat. Und doch erklärt sich einiges in ihrem Leben, seitdem sie die Diagnose erhalten hat. Dabei war ADHS in ihrem Fall eine Nebendiagnose. Die 34-Jährige aus Sassenberg, Kreis Warendorf, befand sich im vergangenen Jahr wegen einer anderen Diagnose in psychotherapeutischer Behandlung. Nach fünf bis sechs Sitzungen äußerte ihre Therapeutin den Verdacht, die junge Frau könnte an ADHS leiden. „Ich doch nicht“, war ihre erste Reaktion.
Diagnose macht viele erklärbar
ADHS kannte sie, denn ihr Bruder leidet auch daran. Sie aber war im Gegensatz zu ihm als Kind eher ruhig, keinesfalls zappelig oder hyperaktiv. Doch die Unruhe spielt sich bei ihr im Kopf ab, wie sie heute weiß. Ein Test bei einem Psychologen bringt die Gewissheit, dass sie tatsächlich an ADHS leidet. „Die Diagnose war eine Erleichterung“, erzählt die junge Frau. Schwierigkeiten, mit denen sie ihr Leben lang zu kämpfen hatte, ergaben plötzlich einen Sinn. „Ich hatte immer das Gefühl, ich bekomme meinen Kopf nicht geordnet“, beschreibt sie. „Ich fange vieles an, bringe es aber nicht zu Ende.“ In bestimmten, vor allem stressigen Situationen ist sie jedoch „hyperfokussiert“, wie sie es nennt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sie in ihrem Job als Kundenberaterin bei einer Krankenkasse eine Präsentation machen muss. Schwer fallen ihr dagegen eintönige Arbeiten.
Medikament hilft, strukturiert zu arbeiten
Gemeinsam mit dem behandelnden Arzt entscheidet sich Janina Hölzle, den Wirkstoff Methylphenidat auszuprobieren. „Ich hatte großen Respekt davor, denn es fällt unter das Betäubungsmittelgesetz.“ Sie nimmt das Mittel zunächst in einer geringen Dosierung von 20 mg. „Schon am zweiten Tag habe ich meine Unterlagen sortiert und den Hausarbeitsraum aufgeräumt. Das ist sehr untypisch für mich“, wundert sie sich noch heute über die enorme Wirkung. „Es ist ein schönes Gefühl, endlich strukturiert zu sein und etwas durchzuziehen“, freut sich die junge Mutter.
Medikament nur bei Bedarf
Trotz der positiven Erfahrungen nimmt sie das Medikament nicht jeden Tag. Die Einnahme richtet sie nach dem zu erwartenden Tagesablauf. „Ich nehme es zum Beispiel nicht, wenn ich ein anstrengendes Teammeeting habe, da brauche ich meine Kreativität“, nennt sie ein Beispiel. Stehen dagegen eintönige Arbeiten an, greift sie auf die Unterstützung durch das Medikaments zurück.
Eine typische Nebenwirkung von Methylphenidat ist Appetitlosigkeit. Das stellt auch Janina Hölzle fest. Sobald die Wirkung des Medikaments nachlässt, regelt sich aber auch ihr Appetit wieder, sodass sie sich dadurch nicht eingeschränkt fühlt.
Heute würde sie sich wünschen, die Diagnose wäre viel früher gestellt worden. Sie war eine gute Schülerin. Doch auf den Zeugnissen gab es häufig den Vermerk, dass sie den Unterricht gestört hatte. Eine medikamentöse Therapie hätte ihr geholfen, im Unterricht ruhiger zu sein, glaubt sie.
Freunde haben Verständnis
Auf ihr soziales Umfeld hat ADHS hingegen kaum einen Einfluss. Sie weiß, dass sie unruhig ist, viel redet und anderen häufig ins Wort fällt. „Meine Freunde kennen mich aber so wie ich bin, sie kommen damit klar“, stellt sie fest.
Schwierig kann es in Streitsituationen werden, denn sie explodiert schnell und wird verletzend. „Ich rede erst und denke dann“, ärgert sie sich, denn nicht selten bekommt ihr Mann diese Gefühlsausbrüche zu spüren. Zum Glück ist er schon immer gut damit zurecht gekommen. Dennoch hat die Diagnose ADHS ihm geholfen, mit der Impulsivität seiner Frau besser umzugehen. Einzig bei ihrem vierjährigen Sohn schafft sie es fast immer, Ruhe und Geduld zu bewahren. „Das Muttersein hat mich verändert“, stellt sie fest.
Struktur finden lernen
Neben dem Methylphenidat helfen Janina Hölzle die Gespräche mit ihrer Psychotherapeutin. Seit der ADHS-Diagnose wurde die Therapie umgestellt und an die Erkrankung angepasst. Die junge Mutter lernt hier beispielsweise, wie sie Struktur findet und wie sie mit schwierigen Situationen umgehen kann.
Über einen Aushang in der psychologischen Praxis wurde sie auf eine Selbsthilfegruppe aufmerksam. „Dorthin zu gehen war das beste, was ich machen konnte“, sagt sie. „Da sind Leute, die ticken genauso wie ich.“
Die Diagnose ADHS war für Janina Hölzle eine Erklärung für vieles, das sie vorher nicht einordnen konnte: „Sie ist aber keine Ausrede für alles. Ich muss lernen, damit umzugehen.“
Eine ADHS-Diät gibt es nicht
Zucker ist schädlich bei ADHS – diese Meinung ist weit verbreitet. Dabei ist über den Einfluss der Ernährung auf die Symptome der Krankheit noch wenig bekannt. Folglich gibt es auch keine ADHS-Diät. „Es gibt aber Ernährungsweisen und Nährstoffe, die Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere Psyche haben“, sagt Monika Rahimi, Ernährungsberaterin aus Bippen im Landkreis Osnabrück. Als Beispiele nennt sie Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D und Zink. Einige Studien haben gezeigt, dass ADHS häufig mit einem Zinkmangel verbunden ist. Unklar ist allerdings, ob der Zinkmangel die ADHS begünstigt oder umgekehrt.
Zucker spielt nur am Rande eine Rolle: Bei einer Therapie mit Methylphenidat hat der Patient während der Wirkzeit des Medikaments kaum Appetit. Danach kommt es jedoch zu Heißhunger. „Bei Heißhunger greift der Mensch nach Möglichkeit zu schnell verfügbarer Energie, und das ist nun einmal Zucker“, sagt die Ernährungsexpertin. Unter anderem deshalb neigen diese Menschen eher zu Übergewicht. Verantwortlich dafür kann aber auch impulsives Essen oder eine fehlende Tages- und Mahlzeitenstruktur sein.
Erschwerend kommt hinzu, dass ADHS-Patienten häufig weitere Erkrankungen haben, wie Allergien und Unverträglichkeiten. Auch Essstörungen, vor allem die Binge-Eating-Störung, kommen häufiger vor.
Eine spezielle Ernährungsweise, welche die Symptome bei ADHS lindern soll, ist die oligoantigene Ernährung. Dabei wird zunächst sehr viel weggelassen. Über mehrere Wochen werden sukzessive einzelne Lebensmittel wieder in den Speiseplan eingeführt. Monika Rahimi hält davon nicht viel: „Ich halte es für unrealistisch, das über mehrere Monate durchzuführen.“ Außerdem berge eine solche Diät die Gefahr einer Mangelernährung.
Ihre Erfahrung mit ADHS-Patienten ist: „Es reicht nicht, den Betroffenen zu sagen, was sie essen sollten, um mit allen Nährstoffen gut versorgt zu sein. Sie brauchen Hilfe dabei, die Empfehlungen umzusetzen.“
Kommt der Heißhunger, wenn die Wirkung von Methylphenidat nachlässt, rät sie beispielsweise zu einer Quarkspeise, die den ersten Hunger befriedigt. Sie stillt das Verlangen nach Süßem, enthält aber gleichzeitig wertvolles Eiweiß.
Selbst wenn es also keine ADHS-Diät gibt, kann eine Ernährungstherapie sinnvoll sein. Sie kann den Betroffenen helfen, über Verhaltensänderungen die Ernährung und damit das Wohlbefinden zu verbessern.
Lesen Sie mehr: