Ukraine: Ein Blick in die Kornkammer

Die Weltöffentlichkeit blickt derzeit auf die Halbinsel Krim und auf die Zukunft der Ukraine. Der Konflikt des Landes mit Russland hat viele Aspekte. In der hiesigen Medienberichterstattung eher unterbelichtet bleibt oftmals die ukrainische Agrar- und Ernährungswirtschaft.

Erinnern wir uns: Am Anfang der aktuellen Krise stand das Assoziierungsabkommen der EU, bei dem Fragen des Imports und Exports von Industrie- und eben auch von Agrarprodukten eine gewichtige Rolle spielten. Der Agrarsektor stellt immerhin mehr als ein Sechstel des Außenhandels (rund 16 %) der Ukraine, vor allem durch den Export von Ölsaaten und Getreide.

Wegen seiner fruchtbaren Schwarzerde-Böden gilt die Ukraine als „Kornkammer Europas“. Das Land liegt auf Platz sechs der Weizenexporteure der Welt, nach den USA, Kanada, Russland, der EU und Australien.

Ein Land mit Potenzial

Der Stellenwert der Agrarwirtschaft wird auch in den folgenden Zahlen deutlich:

• Fast ein Fünftel der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft – vor allem im Westen der Ukraine, während die Schwerindustrie vor allem im Osten des Landes zu Hause ist.• Rund 12 % des Bruttoinlands­produkts der Ukraine stammen aus der Landwirtschaft.

Wie groß das Potenzial der Ukraine ist, geht aus einem Bericht für den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft hervor. Demnach verfügt die Ukraine über 32 Mio. ha Ackerland – das Land hat damit mehr als doppelt so viel Ackerfläche wie Deutschland, erzielt aber derzeit mit durchschnittlich 35 Mio. t nur knapp 70 % der deutschen Getreideproduktion. Die Welternährungsorganisation (FAO) hält eine Jahresproduktion von bis zu 75 Mio. t für möglich.

Der derzeitige Rückstand liegt teils an veralteter Produktionstechnik, teils an den Strukturen des Landes:

• 15 Mio. Kleinstbetriebe – 78 % aller Betriebe in der Ukraine – bewirtschaften weniger als 1 ha, aber fast 40 % der agrarischen Fläche. Sie sind Teil einer ländlichen Subsistenzwirtschaft, die sich allen Umbrüchen zum Trotz als erstaunlich stabil erwiesen hat.

• Nicht wenige Kleinbetriebe sind infolge der Privatisierung der Kolchosen in den 1990er-Jahren entstanden. Die ehemaligen Kolchosemitglieder besitzen durchschnittlich 5 ha Land.

• Die Nachfolgebetriebe der Kolchosen, größtenteils als GmbH oder AG geführt, bewirtschaften 17 Mio. ha und damit etwa die Hälfte des Ackerlandes in der Ukraine. Durchschnittlich sind sie 1200 ha groß. Das Land, so heißt es im Ostausschuss-Bericht, pachten sie „zu einem gesetzlich festgelegten Mindestpachtpreis ,en bloc‘ von den Landeigentümern“.

• Es gibt auch bäuerliche Familienbetriebe in der Ukraine: 43 000 Bauern beackern im Durchschnitt etwa 80 ha, manche sogar bis zu 500 ha. Insgesamt bewirtschaftet diese Gruppe aber nur etwa 7 % des Ackerlandes.

Zeitweilig gab es Bestrebungen, die Fleisch- und Milchproduktion auszubauen. Doch das hat sich laut Ostausschuss-Bericht als Fehlschlag erwiesen, „da diese aufgrund ineffizienter Produktionsverfahren oft nicht rentabel ist und gleichzeitig langfristige Kredite für Investitionen nicht verfügbar waren“.

"Felder müssen immer bestellt werden"

Dabei soll die Ukraine noch 2008 Landtechnik im Wert von mehr als 250 Mio. € importiert haben. Dieser Handel ist im Zuge der Finanzkrise 2009/10 stark zusammengeschmolzen und seither nicht wieder richtig auf die Beine gekommen. Dabei ist das Land „auf importierte Hochleistungstechnik angewiesen“, sagte erst vor wenigen Tagen der John-­Deere-Manager Dirk Stratmann in einem Interview gegenüber der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Stratmann ist für die Geschäfte des Landmaschinenunternehmens in den GUS-Staaten zuständig: „Im Extremfall, also wenn es zu einem längeren bürgerkriegsähnlichen Zustand kommen würde, könnte der Gesamtmarkt signifikant an Volumen verlieren. Aber Felder müssen immer bestellt, das Land ernährt werden. Deshalb gibt es in unserer Branche vielleicht auch nie die ganz extremen Ausschläge nach oben oder unten.“

Sehnsucht der Bevölkerung

Die Bevölkerung der Ukraine, so Stratmanns Eindruck, sehne sich nach einem neuen Lebensstandard, nach weniger Hürden im täglichen Leben. Auf die Frage, wie das Ausland vorgehen soll, sagte er: „Mit einer Polarisierung tut man niemandem einen Gefallen. Die Chance der Ukraine liegt darin, sich sowohl in Partnerschaften mit den östlichen wie auch den westlichen Nachbarn zu engagieren.“

Gisbert Strotdrees