Shetlandpony Lotte steht noch im Stall als Erich mit seiner Mutter auf den Hof Krützkemper am Stadtrand von Münster eintrifft. Der Hof Krützkemper ist eine vom deutschen Kuratorium für therapeutisches Reiten e.V. anerkannte Einrichtung für die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd und Hippotherapie. Heute kommt Erich außer der Reihe. Der zehnjährige und seine Mutter Temba Große Brinkhaus werden über die Erfahrungen seiner heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd bei Hofbesitzerin Claudia Augenstein berichten. Vor allem möchte Erich zeigen, was er sich schon traut.
Behinderung mit vielen Einschränkungen verbunden
Aufgrund eines genetisches Defekts hat Erich mit verschiedenen angeborenen Fehlbildungen und Einschränkungen zu tun, siehe Erläuterung Charge-Syndrom weiter unten im Text.
Sprachlich drückt sich der Grundschüler gut aus. „Mit vier Jahren konnte er schon etwas lesen und im Schulenglisch ist er seinen Mitschülern einiges voraus“, berichtet seine Mutter. Bei Erich ist einiges anders. Er hat eine 100-prozentige Schwerbehinderung und den Pflegegrad IV. Es fehlt ihm an Muskelkraft. Zeitweise ist Erich auf Hilfsmittel wie einen Rollstuhl angewiesen, etwa wenn er körperlich erschöpft ist oder auf ein Tablet, weil die Feinmotorik in den Händen noch nicht für ein Schreiben mit dem Stift ausreicht.
Schon früh werden einige Anomalien wie eine Lippen-Kieferspalte chirurgisch korrigiert. Er erhält Moto-, Ergo-, Physio- und Logotherapie, etwa um motorisch aufzuholen, um Muskelkraft aufzubauen oder um Schwierigkeiten beim Schlucken zu überwinden. Als seine Wirbelsäule mit viereinhalb Jahren stabil genug ist und der Kinderarzt sein Okay gibt, darf Erich zur heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd. Die Kosten von derzeit 95€ im Monat übernimmt die Krankenkasse jedoch nicht.
„Eine heilpädagogische Förderung mit dem Pferd kann keine körperlichen Syndrome lindern“ sagt Expertin Claudia Augenstein. „Oft aber ist es möglich, in gewissen Bereichen zu unterstützen und zu stabilisieren, etwa bei Defiziten in der Wahrnehmung, Motorik, Kommunikation und Sprache, der Koordination und Kognition sowie des Sozialverhaltens“, erklärt sie weiter. Die Förderung werde von Pädagogen mit Trainer C Reiten Lizenz und spezieller Zusatzqualifikation durchgeführt.
Die gesamte Persönlichkeitsentwicklung lasse sich durch heilpädagogisches Reiten fördern. Die Schlüsselrolle spiele dabei das Pferd, weil es all die notwendigen Eigenschaften vereine, die wichtig sind, um Menschen motorisch, sozial und emotional zu stärken.
Wahrnehmung lässt sich schulen
„Für Erich ist insbesondere die Förderung der Wahrnehmung wichtig, weil er sehbehindert und hochgradig schwerhörig ist. Auch sind sein Gleichgewichtssinn, seine Schmerzwahrnehmung und Fähigkeit sich zu konzentrieren eingeschränkt“, erzählt Temba Große Brinkhaus.
„Es sind vor allem senso- und psychomotorische Reize der Pferde, die dabei helfen, positive psychologische und physische Veränderungen herbeizuführen“, sagt Dipl. Pädagogin Claudia Augenstein.“
Zu Beginn der heilpädagogischen Förderung erhielt Erich Einzelstunden. „Während eine Person das Pferd führt, kann die andere gezielter auf das Kind mit besonderem Förderbedarf eingehen. Sie kann es beispielsweise dabei unterstützen, seine Ängste zu überwinden, gerade zu sitzen, das Gleichgewicht zu halten und auch einmal die Hand vom Griff zu lassen“, nennt die Expertin einige Vorteile der Einzelstunde.
Erleben in der Gruppe schult weitere Kompetenzen
Mittlerweile ist Erich in die Gruppenförderung mit drei Kindern. Jetzt ist er nicht nur älter. Auch Motorik, Koordinationsfähigkeit und Gleichgewichtssinn haben sich verbessert. In der Gruppe lernt er nun verstärkt Rücksicht auf sich selbst, auf das Pferd und auf andere Kinder zu nehmen.
„Die Kinder können sich beim Striegeln des Pferdes gegenseitig unterstützten, sie können voneinander abgucken, Partnerübungen auf dem Pferd machen und in einer Gruppe Freudvolles erleben“, nennt Claudia Augenstein konkrete Beispiele. Denn bei allem darf auch der Spaß an der heilpädagogischen Förderung nicht fehlen.
Das Charge-Syndrom bringt Einschränkungen mit sich
- Typisch für das Charge-Syndrom sind folgende Diagnosen, die nicht alle auftreten müssen und individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sein können:
- Spaltbildungen im Auge, die mit erheblicher Sehminderung einhergehen wie Sehfehlern, Gesichtsfeldausfälle bis zur Blindheit;
- Herzfehler;
- vermindertes Längenwachstum sowie Entwicklungsverzögerungen unter anderem auch aufgrund beeinträchtigter Sinnesorgane; chronischer Krankheiten und Gleichgewichtsstörungen;
- Verschluss oder Verengung des Nasen-Rachen-Übergangs, verbunden mit Atemproblemen und/oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalte;
- Genitale Fehlbildungen und/oder Nierenprobleme;
- Fehlbildungen des Ohres verbunden mit Gleichgewichtsstörungen und Hörminderung.
- Dysfunktion von Hirnnerven, die verbunden sein können etwa mit gestörter Mimik der Gesichtsmuskeln, Schallempfindungs-, Gleichgewichts- und/oder Schluckstörungen sowie Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn.
- Manche Fehlbildungen lassen sich operativ korrigieren. Durch optimale Unterstützung entwickeln sich Kinder entsprechend ihren Fähigkeiten. Weiteres unter:
www.charge-syndrom.de
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