Hat der Spaziergänger auf dem Rothaarsteig, dessen Hund vor wenigen Tagen von zwei Wisenten getötet wurde, grob fahrlässig gehandelt, indem er mit nur 5 bis 10 m Abstand an den zwei Wisentkühen vorbeigehen wollte? So oder ähnlich werden möglicherweise Befürworter des Wisent-Projektes nach dem tragischen Unglück gedacht haben.
Verhalten „unberechenbar“
Die Bewertung der Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadenverhütung in Bonn zur geplanten „Wiederansiedlung von Wisenten im Rothaargebirge“, die dem NRW-Umweltministerium bereits im April 2007 zugestellt wurde, lassen das Geschehen jedoch in einem anderen Licht erscheinen. In dem Bericht, der dem Wochenblatt vorliegt, heißt es: „Wisente (...) werden bis zu 60 km/h schnell und sind wie alle Wildtiere in ihrem Verhalten unberechenbar.“ Und weiter: „Das Gefährdungspotenzial auch für den Menschen geht von Kühen aus, die ihre Kälber verteidigen (...).“ Die Begründung liefern die vier „Berichterstatter“, allesamt Mitarbeiter der Forschungsstelle, gleich mit: Wisente würden auf Hunde „angeboren aggressiv“ reagieren. „Lebensgefährliche Situationen können auch durch die Hunde von Spaziergängern entstehen, die zum Beispiel einen Wisent stellen oder Kuh und Kalb trennen und dann auf der Flucht vor den genauso schnell oder sogar schnelleren Wisenten Schutz bei ihren Haltern suchen“, heißt es in dem Papier weiter.
„Suboptimales Gebiet“
Noch mehr aufhorchen lässt die Gesamtbewertung des 2007 noch in der Planung befindlichen Projektes – die Ankunft der ersten Wisente in Bad Berleburg erfolgte erst im Frühjahr 2010. So wurde seitens der Forschungsstelle darauf verwiesen, dass die „zu gewährleistenden Mindestanforderungen“ in den entscheidenden Punkten eindeutig nicht erfüllt seien. „Es entsteht der Eindruck, dass bei dem grundsätzlich positiv zu bewertenden Bemühen, Wisente in größeren frei lebenden Populationen zu halten, mangels geeigneter Lebensräume auf ein suboptimales Gebiet zurückgegriffen wurde, da hier der Eigentümer (Anm. d. Red.: der mittlerweile verstorbene Prinz Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg) Bereitschaft signalisierte.“
Zusammenfassend stellten die Experten der Forschungsstelle fest, dass eine Befürwortung des Vorhabens nicht empfohlen werden kann und „angesichts des erheblichen Gefährdungspotenzials für den Straßenverkehr und den Menschen die Voraussetzungen für eine Genehmigung nicht erfüllt sind“.
Öffentlichkeit belogen
Zweifel an der Redlichkeit der am Wisent-Projekt beteiligten Personen lassen weitere Aspekte aufkommen, die in der Bewertung aufgelistet sind:
- Demnach handelt es sich „eindeutig nicht“ um die Wiederansiedlung einer vormals im Aussetzungsgebiet vorgekommenen Art.
- Das Kriterium einer „kurz- und langfristig überlebensfähigen Population“ ist explizit nicht erfüllt. Der auf eine Obergrenze von 25 Tieren begrenzte Bestand „erfüllt nicht die Kriterien einer Populationsbegründung (...)“. Eine sich selbst erhaltende Wisentpopulation „ist also eindeutig nicht das Ziel des Projektes“.
- „Das vorgesehene Projektgebiet ist für die Ansiedlung einer so mobilen Art wie den Wisent viel zu klein.“
- Das geplante Aussetzungsgebiet ist „eindeutig suboptimal“. Das Aussetzen der Wisente ist als „Faunenverfälschung“ einzustufen.
- „Die (...) Knappheit an Gräsern und Kräutern in den natürlichen Wald- und den Ersatzgesellschaften lässt erwarten, dass der Druck auf Holzgewächse erhöht wird.“
- „Die Straßenrandbereiche sind hinsichtlich des Nahrungspotenzials in nahrungsärmeren Waldgesellschaften hoch attraktiv. Die Folgen bei der Kollision mit einem Kraftfahrzeug sind fatal.“
- „Die beim Auftreten von Problemen zu erwartende großräumige Abzäunung würde die Zerschneidung intakter Lebensräume auf großer Fläche bedeuten und ist von daher fachlich abzulehnen.“
Nur Tourismusförderung?
Obwohl als „einmaliges Artenschutzprojekt“ gefeiert, lässt auch hier die Bewertung der Forschungsstelle Zweifel aufkommen. Laut Vorstudie werde das artenschutzfachlich essenzielle Ziel mit dem Projekt gar nicht angestrebt. „Zumindest der wichtigste Nebenaspekt dieses Projektes ist offenbar die Verwendung einer spektakulären Wildtierart als ,Alleinstellungsmerkmal‘ zur regionalen Tourismusförderung“, kommt die Forschungsstelle zu dem Schluss.
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