In der Regel trägt es jedes männliche Stück Rehwild, also jeder Rehbock: ein sogenanntes Gehörn, je nach Region auch Geweih genannt. Letzteres trifft die Sache eher, denn das Rehgehörn besteht keineswegs aus Hornsubstanz, sondern die beiden Geweihstangen sind Knochengebilde, welche den Stirnfortsätzen, den sogenannten Rosenstöcken aufsitzen, wie es auch bei Geweihen anderer Hirscharten der Fall ist.
Das Rehgehörn wächst daher auch nicht wie echte Hörner ein Leben lang, sondern folgt hormonell bedingt einem Jahreszyklus: Es wird jährlich etwa 120 bis 130 Tage lang neu aufgebaut („geschoben“) und im November/Dezember wieder abgeworfen. Gelegentlich lassen sich daher solche Abwurfstangen in der Natur finden. Die Knochensubstanz des Gehörns ist während des Wachstumes vom „Bast“ überzogen – ein Hautüberzug mit Wollhaaren, der alle zur Versorgung des Gewebes erforderlichen Gefäße und auch Nerven enthält. Ist das Wachstum abgeschlossen, entfällt die Notwendigkeit der Gefäßversorgung und der Bast wird vom Tier entfernt. Der Rehbock „fegt“ dazu Ende März/Anfang April an kleinen Bäumchen. Ältere Böcke werfen ihr Gehörn früher ab und verfegen auch früher.
Jedes Jahr von Neuem
Die jährliche Neubildung der Geweihstangen ist ein außerordentlich energieaufwendiger Prozess, der zudem in einer relativ nahrungsarmen Zeit stattfindet. Über den Grund, warum sich dieses Phänomen in der Evolution entwickelt hat, lässt sich nur spekulieren. Eine Hypothese ist, dass das Gehörn die körperliche Kondition widerspiegelt. Rehböcke, die gut genährt und gesund sind, haben ein größeres bzw. stärkeres Gehörn. Das wiederum könnte eine Rolle für die Attraktivität der Rehböcke für die Weibchen, die Ricken, spielen. Der Preis für diesen Prozess ist der hohe Energieaufwand, der jedes Jahr betrieben werden muss. „Statussymbole“, also im Grunde unnütze, aber „teure“ Dinge spielen bei vielen Tierarten, letztlich auch bei unserer eigenen Spezies, eine wichtige Rolle im sozialen Miteinander.
Im Gegensatz zur Geweihstärke wird die Form des Geweihes beim Reh in hohem Maße genetisch beeinflusst. Daher lässt sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rehwildfamilie sehr gut an der Stangenform erkennen.
Wie bei jedem Gewebe kommen auch hier die unterschiedlichsten Abnormitäten vor. Da das Gehörn beim Rehwild zu den sekundären Geschlechtsmerkmalen zählt, unterliegt die Bildung dem Einfluss des Geschlechtshormons Testosteron. Die Produktionsstätte des Testosterons sind die Hodenzwischenzellen. Kommt es zur Imbalance im Hormonhaushalt, beispielsweise durch Verletzung der Hoden, zeichnet sich dies in der Ausbildung des Gehörns ab.
Findet eine Kastration (Entfernung der Keimanlagen bzw. Hoden) vor der Geschlechtsentwicklung, also vor der Entwicklung der ersten Rosenstöcke statt, fehlt die Geweihanlage komplett und und es wird kein Geweih ausgebildet. Eine Kastration während der ersten Geweihanlage führt zu einem kleinen, knolligen „Perückengehörn“. Dies kann im Folgenden auch nicht mehr abgeworfen werden. Erfolgt die Kastration, während das Geweih von Bast umgeben ist, wird ein „klassisches“ Perückengehörn gebildet. Hat der Bock bereits verfegt und kommt es dann zu einer Schädigung der Hoden, werden die Stangen binnen kurzer Zeit abgeworfen und auch hier folgt eine Perückenbildung.
Verschiedene Abnormitäten
Neben dem hormonell bedingten und sehr imposanten Perückengehörn gibt es einige weitere Abnormitäten wie das Tulpen- und Schaufelgeweih oder den Rosenstock- und Stangenbruch. Diese kommen unter anderem durch Verletzungen zustande.
Für Jäger dient das Rehgehörn als sogenannte „Trophäe“, wobei Trophäe eigentlich nicht das richtige Wort ist. Denn die Ursprünge der Aufbewahrung bestimmter Körperteile von erbeuteten Tieren liegen weit in unserer menschlichen Vergangenheit: So wird heute davon ausgegangen, dass eiszeitliche Jäger der Natur und ihren Beutetieren ökologisch und emotional vermutlich noch viel näher standen als wir Menschen heutzutage. Die Trennung zwischen Mensch und Tier war unschärfer und man musste davon ausgehen, dass man das Tier nach dem Tode in einer jenseitigen Welt wiedertraf. Als Geste des Respekts wurden daher bestimmte Knochen der Beutetiere aufbewahrt. Wir können davon ausgehen, dass auch heute die Wertschätzung und Aufbewahrung der Trophäe in dieser Zeit ihre Wurzeln hat.
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