Wochenblatt: Angesichts gehäufter Nutztierrisse durch Wölfe stellt sich die Frage, warum in anderen EU-Ländern Wölfe bejagt und die Population zahlenmäßig begrenzt werden kann, während man sich in Deutschland damit schwer tut?
Prof. Dr. Dr. Sven Herzog: Dazu ist der Begriff „Bejagung“ zu erläutern. Bejagung im eigentlichen Sinne wird meist als nachhaltige Nutzung verstanden – eigentlich die Idealsituation für alle Beteiligten einschließlich Naturschutz: dem Wolf geht es gut, er ist in der Region vollständig etabliert, nachhaltige Bejagung kostet in der Regel den Steuerzahler nichts oder kaum etwas und der Bestand wird auf einem kontrollierten Niveau gehalten.
Der wichtigste Nebeneffekt einer Bejagung von Wölfen aus Sicht des Wildtiermanagement ist aber das Aufrechterhalten der Scheu vor dem Menschen. Das verhindert ein exponentielles Anwachsen der Übergriffe auf Nutztiere, wie wir dies gerade in Deutschland beobachten. Bejagung in diesem Sinne findet im EU-Raum beispielsweise im Baltikum oder teilweise auch in Schweden statt. Als ein positives Beispiel ist hier Estland hervorzuheben: Dort ist eine nachhaltige Bejagung einschließlich eines intensiven Monitorings des Bestandes gut etabliert, Wölfe werde wie andere Wildtiere auch behandelt. Allerdings wird in Estland der Wolf in Anhanf V der FFH-Richtlinie geführt. Dies ermöglicht die nachhaltige Nutzung.
In Deutschland befindet sich der Wolf wie etwa auch in Frankreich, Italien oder Polen im Anhang IV. Ob das noch gerechtfertigt ist, kann man diskutieren. Fachlich gesehen sprechen die Fakten eher für eine Aufnahme in Anhang V. Es ist somit derzeit eher eine politische Entscheidung. In dieser Situation sind allerdings trotzdem nach FFH-Richtlinie Entnahmen möglich. Dies zeigen Länder wie Schweden, wo Entnahmen im Rahmen der „Schutzjagd“ erfolgen. Die Entnahmen sind nicht auf ein spezielles Individuum („Problemwolf“) bezogen wie bei uns, sondern betreffen eine Region oder auch mal einen ganzen Sozialverband. Auch Frankreich zeigt, dass Entnahmen mit jagdlichen Methoden möglich sind. Der französische Wolfsmanagementplan sieht ein intensives Monitoring in den Riskiogebieten mit Weidehaltung vor. Von den dort gezählten Wölfen sollen dann 10–12 % jährlich erlegt werden.
"Problemwölfe" entnehmen?
Gerade am Niederrhein besteht die Forderung, die „Problemwölfin Gloria“ zu entnehmen? Könnte dieser Weg eine Lösung sein?
Ich halte den Begriff „Problemwolf“ für wenig hilfreich, er vermenschlicht zu sehr. Ich überzeichne jetzt mal: Ein Tier, das sich über Gebühr dem Menschen nähert, wird letztlich für dieses „Vergehen“ getötet. Echte Problemwölfe wären etwa verletzte Tiere mit einem Handicap oder tollwutkranke Tiere. Die muss man entnehmen. Die meisten „Problemwölfe“ oder „verhaltensauffälligen Wölfe“ sind lediglich Tiere, die ein normales, gesundes Wolfsverhalten zeigen und einfach nur schneller als andere gelernt haben, dass Menschen harmlos sind und sich Nahrung in Nähe der Menschen risikoloser erbeuten lässt, als wenn man Wildtiere jagt.
Ein solchen Wolf zu töten, ist zwar für die Population völlig unproblematisch. Allerdings wird man dadurch langfristig die übrigen Tiere des Rudels meist nicht wirklich von Nutztieren fernhalten. Und der Aufwand, ein ganz spezifisches „Problemtier“ zu identifizieren und zu entnehmen, ist enorm. Und oft gelingt das dann nicht mal.
Neue Maßnahmen für Herdenschutz
Wäre es eine bessere Alternative, aus jedem Wolfsrudel ein Jungtier zu schießen, um dadurch Wölfe scheu zu halten?
Der Vorschlag, jährlich ein Jungtier aus einem Sozialverband zu entnehmen, stammt aus der Schweiz. Der Nachweis, dass das funktioniert, steht noch aus. Allerdings spricht wildbiologisch und aus Sicht des Wildtiermanagement einges dafür: der Verlust eines Welpen im Jahr liegt im Rahmen der „kompensatorischen Sterblichkeit“, hat also keinen Einfluss auf die langfristige Reproduktion des Rudels, wäre leichter durchzuführen als die Problemwolfentnahme und würde definitiv bei den Elterntieren einen Lerneffekt auslösen („Menschen sind gefährlich“), den sie an die Welpen weitergeben.
Kann Herdenschutz funktionieren?
Er funktioniert definitiv, langfristig aber nur, wenn nicht nur Teile der verfügbaren Instrumente (bislang vor allem Zäune und Herdenschutzhunde) eingesetzt werden, sondern auch aktive Maßnahmen der Repellenz (kurzfristige Abschreckung) oder Vergrämung (langfristige Lerneffekte, bestimmte Situationen zu meiden). Und – selbst wenn vielen Menschen nicht wohl bei dem Gedanken ist – auch das Entnehmen, sprich Töten einzelner Wölfe, gehört in das Spektrum der Herdenschutzmaßnahmen.
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