Ästlingsphase

Jungtiere nicht mitnehmen

Sitzen bereits befiederte Jungvögel nicht im Nest, sondern auf einem Ast oder am Boden, ist das Verhalten in der „Ästlingsphase“ normal. Auch wenn es so wirkt – diese Tiere brauchen keine Hilfe.

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht: Jedes Frühjahr verlieren viele Vögel und Eichhörnchen ihren Nachwuchs, weil die Jungtiere irrtümlich ihrem Lebensraum entnommen und in Wildtierauffangstationen oder in eine Tierklinik gebracht werden. „Wenn ein junger Vogel allein auf dem Boden sitzt, scheint die Situationen für viele Menschen eindeutig zu sein: Sie denken, das Tier wurde von seinen Eltern verlassen, und sammeln es wohlmeinend ein. Aber damit schaffen sie erst ein Problem“, erklärt Dr. Florian Brandes, Leiter der Wildtier- und Artenschutzstation im niedersächsischen Sachsenhagen.

Ob Junghase, junges Eichhörnchen oder Jungspatz – sie wirken hilfsbedürftig, gerade weil sie oft alleine angetroffen werden. Doch statt zu helfen sollte der Mensch sich besser zügig entfernen und die Jungtiere nicht anfassen. (Bildquelle: Brandes)

(Bildquelle: Tierärztliche Hochschule Hannover)

Denn solche Jungvögel sind keinesfalls verlassen. Die Elterntiere befinden sich in der Nähe, allerdings im Verborgenen wegen der Anwesenheit des Menschen. Während dieser „Ästlingsphase“ sind junge Vögel noch nicht voll flugfähig, halten sich aber – schon fast voll befiedert – bereits außerhalb ihres Nestes auf. In dieser Zeit sind die Vögel zwar tatsächlich einem erhöhten Risiko ausgesetzt, von Räubern erbeutet zu werden, es gehört aber zum natürlichen Verhalten der Tiere.

Die Umgebung erkunden

Das Gleiche gilt für junge Eichhörnchen. Irgendwann beginnen sie, als Jungtiere ihre Umgebung zu erkunden. Auch fällt mal ein junges Eichhörnchen aus dem Nest (Kobel). Dann ist aber nicht gleich menschliche Hilfe gefragt. Denn die Elterntiere sind in der Lage, ihre Jungen zurück in den Kobel zu holen. „Jungvögel und junge Eichhörnchen sind, wenn sie unverletzt sind, grundsätzlich dort zu belassen, wo sie gefunden wurden.

Junge Eichhörnchen folgen bei ihren ersten Ausflügen aus dem Kobel oft Menschen, da sie diese noch nicht als Bedrohung ansehen. Letztere sollte sich zügig entfernen und die Junghörnchen nicht anfassen. (Bildquelle: Brandes)

Denn selbst bei sehr guter Pflege durch den Menschen sind ihre Überlebenschancen erheblich schlechter als bei der Aufzucht durch die Eltern“, sagt Prof. Dr. Michael Pees, Leiter der Klinik für Heimtiere, Reptilien und Vögel der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover. Menschliche Hilfe sei erst angeraten, wenn Tiere verletzt sind oder – nach einer sehr langen, ruhigen Beobachtungsphase – wenn sicher ist, dass die Jungtiere von ihren Eltern verlassen wurden.

Mitnehmen sogar verboten

Laut Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) ist es verboten, geschützte Tiere, zu denen beispielsweise Vögel, Igel oder Eichhörnchen zählen, aus der Natur mitzunehmen. Wildtiere dürfen ihrem Lebensraum vorübergehend entnommen werden, wenn sie krank oder verletzt sind.

Die Verantwortung für das Tier trägt – auch finanziell – von diesem Zeitpunkt an die Person, die das Tier mitgenommen hat. Es gibt kein staatlich finanziertes System für die Versorgung verletzter Wildtiere. Sobald sie genesen sind, müssen die Tiere unverzüglich wieder in die Freiheit entlassen werden. Die Aufnahme streng ­geschützter Arten, zu denen ­beispielsweise Weißstörche oder Feldhamster zählen, ist unverzüglich der Unteren Naturschutzbehörde zu melden.

Tierleid verhindern

Von den rund 4000 Tieren, die die Wildtier- und Artenschutzstation in Sachsenhagen im vergangenen Jahr aufgenommen hat, waren 3000 Wildtiere und hiervon wiederum 70 % Jungtiere. „Die wenigsten davon waren verletzt, die meisten nur vermeintlich verwaist“, berichtet Dr. Florian Brandes, Leiter der Station. „Personell und räumlich stoßen wir gerade in der Jungtierzeit an unsere Grenzen.“ Ziel des gemeinsamen Aufrufes mit der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, dem Tierschutzverein Hannover und der Landeshauptstadt Hannover ist, dass Jungtiere nicht unnötig der Natur entnommen werden. „Dadurch lässt sich viel Tierleid verhindern.“

Tipps zum richtigen Verhalten und Umgang mit entdeckten jungen Wildtieren

  • Halten Sie als Mensch grundsätzlich ausreichenden Abstand zu jungen Wildtieren, sodass die Elterntiere sich trauen, zurückzukommen. Wenn Sie den Verdacht haben, dass die Tiere verletzt sind und Hilfe benötigen, beobachten Sie sie zunächst mehrere Stunden, bis Sie sich wirklich sicher sind.
  • Sind die Tiere nicht auffällig krank, lassen Sie sie in Ruhe. Bitte nehmen Sie nur eindeutig kranke und offensichtlich verletzte Tiere mit und bringen sie in eine Tierarztpraxis oder eine Pflegestelle. Da die Überlebenschancen der Jungtiere sinken, wenn sie der Natur entnommen werden, nehmen Sie sie im Zweifelsfall nicht mit und vertrauen Sie der Natur – auch wenn dies im Einzelfall bedeuten kann, dass ein Jungtier zur Beute für andere Tiere wird.
  • Setzen Sie Tiere, die auf der Straße sitzen, möglichst an den Rand, an Hecken oder an Bäume.
  • Melden Sie sich, wenn Sie denken, dass ein Tier verletzt ist, trotzdem vorher telefonisch bei einer Tierarztpraxis oder einer Pflegestelle, um sich beraten zu lassen. Sind beide nicht erreichbar, wenden Sie sich gegebenenfalls unter der Rufnummer 112 an die örtliche Feuerwehr. In vielen Städten und Landkreisen haben Feuerwehren eine Tierrettungseinheit eingerichtet, deren Mitglieder im fachgerechten Umgang und Transport der Tiere entsprechend geschult sind.
  • Ein einmal entnommener Jungvogel kann zwar zurück­gesetzt werden. Die Entnahme bedeutet für das Tier aber großen Stress und stellt ein Risiko dar. Es sollte immer vermieden werden, ein Wildtier unnötig aus seinem Lebensraum zu entnehmen.
  • Nicht jedes verletzte Tier kann gerettet werden. In der Tierarztpraxis oder der Pflegestelle schätzen Fachleute objektiv die Überlebenschancen der Tiere ein. Besteht keine ausreichende Chance, das Tier wieder in die Natur entlassen zu können, ist es grundsätzlich tierschutzgerechter, das Tier zu euthanasieren.
  • Wildtiere sind keine Familienmitglieder. Haben Sie Respekt vor der Natur und lassen Sie Wildtieren entsprechend ihrer Bedürfnisse ihre Freiräume. Fehlprägungen auf den Menschen bedeuten oft lebenslanges Tierleid.
  • Für Tiere, für die Sie Verantwortung übernommen haben, können Sie an verschiedenen Stellen Hilfe suchen. Die Verantwortung bleibt aber bis zu einer eventuellen Übergabe bei Ihnen.