Wie sieht aktuell die Lage in den Molkereibetrieben aus? Gibt es Produktionseinschränkungen durch einen verschärften Infektionsschutz am Arbeitsplatz oder fehlende Mitarbeiter? Wo liegen die größten Probleme?
Stahl: Die Molkereien mit ihren Mitarbeitern und Milcherzeugern sind systemrelevant. Wir haben es gemeinsam mit großen Anstrengungen geschafft, die Bevölkerung auch in Zeiten von „Hamsterkäufen“ mit Milch und Milcherzeugnissen zu versorgen - ein wichtiger Beitrag zur Beruhigung der angespannten Situation. Das Thema „verschärfter Infektionsschutz“ trifft grundsätzlich die gesamte Wirtschaft. Strenge Hygienemaßnahmen waren auch vor Corona in unserer Branche selbstverständlich. Auch wir hatten teilweise Engpässe bei Hygieneartikeln, konnten in den Werken aber immer wieder Lösungen zur Sicherstellung der „Supply Chain“ finden. Am Anfang der Krise hatten wir tatsächlich Ausfälle beim Personal. Zeitweise hatten wir dann das „Pendlerproblem“, vor allem an den Grenzen zu Polen und Tschechien. Mit sinkenden Infektionszahlen und der Rücknahme von Beschränkungen entspannt sich die Lage zunehmend, mit Ausnahme einiger regionaler Hot Spots.
Welche Auswirkungen sind bei den Ausfuhren auf den Binnenmarkt und die Drittlandsmärkte zu verzeichnen? Gibt es Erholungstendenzen?
Zunächst stockten die Märkte in Südeuropa und China. China hat sich wieder beruhigt, wenn auch die Containerkosten enorm gestiegen sind. Der Absatz Richtung Hotels, Gaststätten und Catering (HoReCa) bleibt grundsätzlich schwierig; davon ist zum Beispiel Italien stark betroffen. Auch der Tourismus in Spanien fällt aus. Exporte in den Lebensmitteleinzelhandel (LEH) im Binnenmarkt sind dagegen grundsätzlich gut.
Reichen die EU-Beihilfen zur Privaten Lagerhaltung (PLH) aus, um eine Marktkrise abzuwenden? Welche weiteren Maßnahmen würden Sie sich wünschen?
Ob die Beihilfe reicht, hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie und der Einschränkungen ab. Zumindest ist die Maßnahme schnell wirksam - alle anderen Programme dauern länger, da kann der Markt schon wieder drehen.
Die Preise für Magermilchpulver haben in den vergangenen Wochen stark nachgegeben. Im April lagen sie allerdings immer noch auf dem höchsten Niveau seit fünf Jahren für diesen Monat. Auch die Schnittkäsepreise lagen auf einem gut durchschnittlichen Niveau. Sind vor diesem Hintergrund Beihilfen für die PLH aus Steuermitteln zu rechtfertigen?
Ich denke schon! Brüssel gibt an Beihilfen für die Private Lagerhaltung gerade mal 30 Mio Euro aus; bei jährlich 150 Mrd kg Milch in Europa ist das ein sehr überschaubarer Einsatz mit 0,02 Cent/kg Anlieferung. Und die Verantwortung für die Bestände bleibt bei der Milchwirtschaft, im Gegensatz zu Interventionskäufen der Europäischen Union.
Warum ist die Molkereibranche so skeptisch gegenüber einer freiwilligen oder obligatorischen Milchmengenreduzierung auf EU-Ebene im Krisenfall?
Wir sind nicht gegen eine freiwillige Mengenbegrenzung. Viele meiner Molkereikollegen haben dazu aufgerufen. Und wenn Brüssel ein solches Programm auf freiwilliger Basis anbieten würde, läge das in der Entscheidung der Landwirte. Wir sind aber gegen verpflichtende Programme. Das funktioniert nicht! Eine Quote-light wird es nicht geben. Das gehört in die Verantwortung der Molkereien mit ihren Landwirten. An den Lieferbeziehungen ist schon viel geändert worden, wie gerade erst Prof. Holger Thiele vom Institut für Ernährungswirtschaft (ife) in Kiel bestätigt hat. Eines muss uns allen klar sein: Es gibt kein Politikelement, das die Folgen dieser Pandemie auf die Märkte kurzfristig neutralisieren kann - das gilt auch für die Milchmärkte. Mittel- und langfristig kommen Märkte durch Anpassung von Angebot und Nachfrage wieder ins Gleichgewicht, auch ohne Eingriffe der Politik.
Gibt es neue Entwicklungen bei der Sektorstrategie, und wie sieht der Fahrplan für die Zukunft aus?
Corona behindert auch die Umsetzung der Strategie. Wir wollten weiter sein, vor allem bei der Branchenkommunikation. Mehrere Agenturen waren schon ausgewählt und eingeladen, ihr Konzept vorzustellen; dann kamen die Reisebeschränkungen.
Wie weit sind die Ideen für eine Branchenkommunikation gediehen und wann ist ein Start realistisch?
Wir erwägen derzeit, die Auswahl online durchzuführen, was schwierig sein wird. Sobald die Agentur feststeht, werden alle Molkereien in Deutschland angeschrieben, ob sie sich verbindlich für vier Jahre an der Finanzierung beteiligen. Wenn diese Mehrheit steht, wird eine kleine Organisation außerhalb der Berliner Verbände aufgebaut. Alles noch Pläne für 2020, aber es wird eng.
Die Begrenzung von Preisschwankungen, vor allem auf Erzeugerebene, ist auch in der Sektorstrategie ein Ziel. Welche Maßnahmen sind hierfür am geeignetsten?
Volatilität wird den Milchmarkt begleiten, ebenso wie die anderen landwirtschaftlichen Märkte. Dagegen kann man sich versichern wie in anderen Märkten auch. Viele Molkereien helfen ihren Milcherzeugern dabei, wenn sie das denn wollen. Verschiedene Programme werden derzeit aufgebaut. Vor Corona war die Nachfrage nach Börsengeschäften allerdings schon klein und jetzt geht sie bei schlechten Terminkursen gegen Null. Meiner Meinung nach haben einige mit dem Abschluss zu lange gewartet.
Nehmen Festpreismodelle in der deutschen Molkereiwirtschaft zu? Wie stark wird dafür die European Energy Exchange (EEX) in Leipzig genutzt?
Ich bin überzeugt davon, dass Festpreismodelle zunehmen werden, vor allem Back-to-Back-Geschäfte, bei denen Milchlieferanten, Molkereien und Kunden der Molkereien Interesse an stabilen, planbaren Preisen haben. Der Landwirt kann Preisspitzen dann natürlich nicht mitnehmen, und darin liegt bisher das Problem: In so einer Marktphase schmerzt der Blick zum Nachbarn, der kein Termingeschäft abgeschlossen hat. Da braucht es ein Umdenken. Die EEX ist sicher ein sehr wichtiges Element bei den Festpreismodellen.
Warum verzeichnet der Future für Flüssigmilch kaum Umsätze?
Eine gute Frage, die ich so nicht beantworten kann. Derzeit sind die Zukunftskurse niedrig, ob bei Milchpulver, Butter oder Flüssigmilch; die Landwirte werden kaum auf diesem Niveau abschließen.
Warum wird die internationale Handelsplattform Global Dairy Trade (GDT) nicht von größeren deutschen Molkereien für Verkäufe genutzt?
Das entscheidet jede Molkerei selbst. GDT sitzt in den USA und wird von den Neuseeländern gesteuert - vielleicht kommen da Vorbehalte her, was die Preisbildung angeht.
Schauen wir auf die Milchpreise: Deutschland hatte zwischen 2005 und 2019 in 180 Monaten 41 mal den niedrigsten Milchpreis und nicht einmal den höchsten aus einer Gruppe von sechs Ländern (Deutschland, Österreich, Niederlande, Frankreich, Irland und Dänemark). Was machen unsere Nachbarn bei der Milchvermarktung besser?
Wenn ich mir die Statistik anschaue, kommt deutlich mehr Rohmilch aus dem Ausland zu uns als umgekehrt. So schlecht kann der deutsche Milchpreis wohl nicht sein! Dazu kommt: Die großen europäischen Discounter stammen aus Deutschland, und viele deutsche Verbraucher achten stark auf den Preis. Die Wertschätzung für Lebensmittel ist in den genannten Ländern tendenziell höher.
Die Bundesbürger sind nicht mehr so positiv gegenüber Milch eingestellt wie noch vor einigen Jahren. Was tut die Milchwirtschaft, um diesen Trend zu drehen?
Dieser Trend besteht in vielen westlichen Gesellschaften, nicht nur in Deutschland. Milch wird zu Unrecht diskreditiert. Die Branchenkommunikation soll helfen. Und Molkereien halten mit Werbung für ihre Markenprodukte gegen diesen Trend.
Im Schweinesektor findet eine verpflichtende Haltungs- und Herkunftsangabe viele Befürworter. In anderen EU-Ländern wie Frankreich gibt es bereits eine verpflichtende Herkunftsangabe in verarbeiteten Lebensmitteln. Wie steht die Milchwirtschaft zu solch einer Auslobung bei Milchprodukten?
Das kann für unsere Branche nicht die Lösung sein: Milch wird gesammelt im Tankwagen und ist kein Stückgut wie das Hinterviertel beim Rindfleisch. Wir „stapeln“ die Milch in Tanks und viele Molkereien sind international unterwegs, nicht nur Rohmilch wird gehandelt, auch Eiweißkonzentrate oder Rahm. Die EU-Kommission und das Thünen-Institut (TI) haben das untersucht: Die Kosten einer verpflichtenden Herkunftsangabe wären riesig, und die Kosten trägt letztlich der Landwirt. Wenn Länder das jetzt verpflichtend fordern, ist das Ernährungspatriotismus und hat nichts mit Binnenmarkt zu tun. Wer dagegen die Herkunft seiner Markenprodukte ausloben will, kann das machen; dazu gibt es EU-weit Regeln.
Wie beurteilt die Milchwirtschaft die Forderungen nach einer Steuer beziehungsweise Abgabe auf Produkte der tierischen Veredlung, um den Umbau der Tierhaltung zu mehr Tierwohl zu finanzieren?
Der MIV-Vorstand sieht das mehrheitlich kritisch. Wir haben in Deutschland Produktsteuern abgebaut wie die Zuckersteuer. Sicher ist allerdings: Der Umbau kostet Geld, denn gerade in ältere Anbindeställe muss viel investiert werden, wenn sie weitergeführt werden sollen. Hier könnte der Staat auch mit Ordnungsrecht bei gleichzeitiger Stallbauförderung reagieren.
Wie weit ist die deutsche Milchbranche bei der Reduzierung von Treibhausgasemissionen und welche weiteren Maßnahmen sind dazu geplant?
Der MIV hat den Wissenschaftler Prof. Peer Ederer vom „Global Food and Agribusiness Network“ gebeten, den Zusammenhang zwischen Kühen, Milch und Klima zu beleuchten - ein Film zeigt seine Ergebnisse unter www.milchundklima.de. In unseren Werken unternehmen wir alles Erdenkliche, um Emissionen zu vermeiden oder wenigstens zu kompensieren.
Sind pflanzenbasierte Milchprodukte eine Konkurrenz für Milchprodukte, oder bietet eine Aufnahme in das Portfolio eine Chance?
Vor allem in westlichen Gesellschaften sind pflanzliche Produkte auf dem Vormarsch und ersetzen mehr und mehr Milchprodukte: erst Trinkmilch, dann weitere Produkte der Weißen Linie, schließlich Käse. Das kann ein „Game-Changer“ werden. Daher mein Rat an unsere Branche: Beschäftigt Euch damit, denn der Trend verschwindet nicht einfach.
Wo steht die deutsche Milchwirtschaft im internationalen Vergleich mit Wettbewerbern in der EU und weltweit?
Wir sind stark im Kostenmanagement bei hoher Werksauslastung im 24/7-Modus. Die größten Milchwerke Europas stehen in Deutschland. Allerdings sind die Deutschen keine ausgesprochenen Feinschmecker wie zum Beispiel die Franzosen oder Italiener. Deshalb produzieren wir relativ wenige Spezialitäten im hochpreisigen Segment. Nachholbedarf haben wir sicherlich auch in der Internationalisierung und beim Export in Drittländer. Der Russlandboykott hat uns zurückgeworfen.
Der Brexit ohne Abkommen ist noch nicht vom Tisch; wie groß sind die Sorgen?
Brüssel ist im Corona-Modus, daher ist ein ordentliches Verhandeln mit den Briten kaum möglich. Wir brauchen unbedingt den gegenseitigen freien Marktzugang; dafür setzen wir uns ein.
Welche drei wichtigsten politischen Instrumente beziehungsweise Zielsetzungen sollte die zukünftige Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union enthalten?
Erstens, die Stärkung einer nachhaltigen Milcherzeugung und -verarbeitung zum Schutz der Artenvielfalt. Zweitens, europaweite Initiativen für mehr Tierwohl. Zu den ersten beiden Punkten bin ich gespannt auf die Farm-to-Fork-Strategie der EU, die jetzt mehrfach verschoben wurde. Drittens, die Modernisierung des Lebensmittelrechts und der Abbau von Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU.
Wie sieht Ihre Prognose für die deutsche Milchwirtschaft für die nächste Dekade aus?
Nicht so schlecht, wie viele uns das glauben machen wollen. Allerdings geht der Strukturwandel weiter, unter den Molkereien und bei den Milcherzeugern. Die Tierhaltung wird sich verändern. Die ganzjährige Anbindehaltung gehört abgeschafft. Wir brauchen mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfung durch Innovationen. Daran müssen wir arbeiten.
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