Wochenblatt: Kanzlerin Merkel sprach vergangene Woche angesichts der Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen von „erschreckenden Nachrichten“, Arbeitsminister Hubertus Heil kündigte gesetzliche Maßnahmen an. Sie weisen seit fast zehn Jahren auf die Situation der zumeist osteuropäischen Arbeitnehmer hin. Wurde in der Vergangenheit zu wenig hingeschaut?
Kossen: Seit Jahren wird die Verantwortung von einer zur nächsten Ebene weitergeschoben. Das beginnt auf der Ortsebene bei den Gesundheits- und kommunalen Ordnungsämtern und geht hoch bis zur bundespolitischen Ebene. Gerade für die Kontrolle der Unterkünfte muss eine Rechtsgrundlage geschaffen werden. Wenn Regelungen für alle gelten, können befürchtete Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden.
Die Corona-Fälle scheinen sich auf den Coesfelder Westfleisch-Standort zu beschränken. An den vier Westfleisch-Betrieben in Hamm, Gelsenkirchen, Lübbecke und Bakum fielen alle Tests negativ aus, ebenso bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Wie erklären Sie sich die Unterschiede?
Ich bin sicher, dass es in absehbarer Zeit auch an anderen Standorten zu Ausbrüchen kommen wird. Es wäre zu wünschen, dass nicht. Aber die Strukturen, die eine Ausbreitung begünstigen, sind überall gleich. Die Gott sei Dank vielen negativen Testergebnisse rechtfertigen die derzeitigen Wohn- und Arbeitsverhältnisse jedoch nicht.
Welche Rolle spielen die Landwirte?
Ich bin in den letzten Jahren viel mit Landwirten im Gespräch gewesen – vor allem, weil sie sich über mich geärgert haben. Die Landwirte fühlen sich immer mit angeklagt, wenn die Situation der Arbeiter von mir oder von anderer Stelle kritisiert wird. Ich höre oft Sätze wie: ‚Und jetzt auch noch die Kirche‘, oder: ‚Jetzt sind wir auch noch daran schuld‘.
Und sind sie das?
Ich möchte die Landwirte in keiner Weise mit verantwortlich machen für die Situation der Arbeiter. Auch, wenn sie sich von den Vorwürfen oft angesprochen fühlen: Ich meine sie nie mit. Die Entscheider sind da ganz andere – obwohl Westfleisch formal eine Genossenschaft ist. Aber sie handeln wie ein Konzern. Ich kann da keinen genossenschaftlichen Ansatz erkennen. Genossenschaftlich hat für mich etwas mit Solidarität zu tun, mit Gerechtigkeit. Die Landwirte befinden sich zweifelsfrei in einer schwierigen Situation. Einerseits werden sie mitverantwortlich gemacht für die Branchenprobleme der Schlachtbetriebe. Andererseits sind sie genauso Opfer des Systems.
Was meinen Sie mit Opfer des Systems?
Im Grunde, so zumindest meine Meinung, haben die Landwirte in diesem System kaum noch eigenen Handlungsspielraum: Sie können entweder an Tönnies verkaufen oder an Westfleisch – wenn es überhaupt zwei Optionen gibt.
Was ich damit sagen will: Ich glaube, dass in der Hackordnung dieser Wertschöpfungskette die Landwirte an der zweituntersten Stelle stehen. Ganz unten stehen die Arbeitsmigranten. Aber wenn man die Stunden, die auf einem Hof geleistet werden, mal ausrechnet, weiß ich nicht, ob dann alle auf 9,35 € die Stunde kommen. Im Grunde sind die Landwirte manchmal auch schlicht Lohnmäster, die nicht mehr die Freiheit haben, den Preis irgendwie mit zu kontrollieren oder groß wählen können, wem sie ihre Tiere verkaufen.
Was können Landwirte in dieser Situation machen?
Ich weiß nicht, wie wir da rauskommen. Vielleicht muss man andere, neue Genossenschaften gründen, die sich unabhängiger auf dem Markt verhalten können. Und es stellt sich da natürlich auch gesellschaftlich die Frage, wie viel uns gute Lebensmittel wert sind. Darin liegt auch ein Teil des Problems. Die Landwirte beklagen ja zu Recht, dass ihre Arbeit zu wenig gewertschätzt wird. Sie wollen keine Almosen einklagen, sondern Wertschätzung.
Wie begreifen Sie ihre eigene Rolle? Eine Art Lobbyist der Arbeitsmigranten?
Das deutsche Arbeitsrecht nimmt an, dass die Arbeitnehmer ihre Rechte in einem Beschäftigungsverhältnis selbst geltend machen können. Zum Beispiel durch einen Betriebsrat oder eine Gewerkschaft oder selbst auf dem Klageweg. Alle drei Wege funktionieren bei den Arbeitsmigranten in der Regel nicht. Viele wissen nicht, was ihre Rechte sind oder wer sie unterstützt, diese durchzusetzen. Das versuche ich und vor allem auch unser Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ zu institutionalisieren: Durch Beratung, durch juristische Unterstützung. Da ist tatsächliche eine Leerstelle. Deshalb funktioniert diese Art von Beschäftigung auch schon so lange.
Wie wird ihr Engagement in der Bevölkerung angenommen?
Manche finden es gut und glaubwürdig, wenn Kirche sich hier engagiert und anwaltschaftlich tätig wird. Andere sagen genau das Gegenteil: Kirche sollte sich aus genau diesen Bereichen raushalten. Wieder andere haben die Haltung: Eigentlich müssten die Rumänen doch froh sein, dass sie hier arbeiten dürfen.
Dass in Rumänien andere Löhne als hier bezahlt werden, ist mir wohl klar. Aber es gibt meiner Meinung nach keinen Grund dafür, dass hier vor Ort Menschen, die die gleiche Arbeit machen, anders bezahlt werden. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Man nutzt im Grunde eine Notlage von Menschen aus, die hierherkommen, weil sie hier eine Perspektive sehen.
Was muss jetzt, was darf nicht passieren?
Schlechtesten Falls wird etwas geändert, aber nichts verändert. Wenn am Ende wieder eine Selbstverpflichtungserklärung rauskommt, kann man sich die Zeit auch sparen. Bestenfalls wird die Frage der Unterbringung langfristig gelöst. Es braucht vom Gesetzgeber einen Rahmen, der die Werkvertrags- und Leiharbeit auf ein vertretbares und vernünftiges Maß einschränkt. Stammbelegschaften müssen wiederaufgebaut werden.
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