„Fünf Sekunden vor Zwölf“

Klimawandel: schnelles Handeln nötig

Der Soester Meeresbiologe Udo Engelhardt malt im Wochenblatt-Interview ein düsteres Bild: Die Politik hat den Klimawandel viel zu lange vernachlässigt, die Gesellschaft polarisiert sich zusehends. Dabei ist ein schnelles Handeln nötiger als je zuvor.

Wochenblatt: Herr Engelhardt, Sie haben ­Ihren Job als Meeresbiologie vorerst an den Nagel gehängt und engagieren sich stattdessen in der Klimakommunikation. Warum?

Ich habe schon vor 20 Jahren das Massensterben von Korallenriffen infolge des Klimawandels dokumentiert. Zu sehen, dass wir trotz des vorhandenen Wissens die Politik nicht zum Handeln bringen, ist extrem frustrierend. Wir wissen genug. Aber wir tun nicht genug.

Wir wissen genug. Aber wir tun nicht genug." (Udo Engelhardt)

Statt weiter zu forschen, habe ich mich daher auf die Kommunikation des Zustandes fokussiert. Das ist mehr als Klimawandel. Es ist ein Klimanotstand, in dem wir uns heute schon befinden.

Warum passiert Ihrer Meinung nach zu wenig?

Udo Engelhardt. (Bildquelle: Schröder)

Es gibt viele Wissenschaftler, die versuchen, das Thema der Politik nahezubringen. Zum Beispiel der Gründer des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, Prof. Schellnhuber. Sein Eindruck ist, dass sich die Politik dem Stand der Wissenschaft regelrecht verweigert – auch, weil wir in ganz Europa einen sehr aktiven Lobbyismus der fossilen Industrie haben. Ich sehe wenig politischen Mut, auf die Situation zu reagieren.

Klimapäckchen statt Klimapaket

Das ändert auch das jüngst beschlossene Klimapaket nicht?

Das ist allerhöchstens ein Klimapäckchen. Wir müssen eine Einsparung von etwa 14% CO2-Emmission pro Jahr erreichen. Von jetzt an. Das Ziel muss sein, 2030 weltweit 50% Reduktion erreicht zu haben. Das Klimapäckchen kommt da nicht im Ansatz ran. Auch die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens verfehlen wir damit. In der Konsequenz drohen uns Strafzahlungen in Milliardenhöhe – aus Steuergeldern.

Für mich ist das eine fatale Realitäts- und Arbeitsverweigerung der Regierung. Und das nicht erst seit heute: Hätten wir im Jahr 2000 schon gegen den Klimawandel gesteuert, hätten wir jährlich nur 3% der Emissionen weltweit einsparen müssen, um die Kurve in Richtung Null-Emission hinzubekommen. Die Aufgabe wird immer schwieriger.

Subventionen und CO2-Preis

An welchen Stellschrauben müsste gedreht werden?

In erster Linie müssten die Subventionen für fossile Energieträger abgeschafft werden. Der Internationale Währungsfonds hat Anfang dieses Jahres einen Bericht vorgelegt. Laut diesem fließen 6,5% des weltweiten Bruttosozialproduktes direkt oder indirekt als Subventionen in die fossilen Energieträger. Auch in Deutschland gibt es viele klimaschädliche Regelungen in der Gesetzgebung.

Die zweite große Stellschraube ist eine CO2-Bepreisung. Der CO2-Preis muss jedes Jahr verlässlich gesteigert werden. Die eingenommenen Gelder müssen als Klimadividende wieder verteilt werden.

Das Klimapaket sieht einen Ein­stiegspreis von 10 € pro Tonne CO2 vor. Ist das ausreichend?

10 € bringen überhaupt nichts. Wir müssten mit mindestens 60€ einsteigen und das dann rapide hochfahren. Berechnungen des Umweltbundesamtes sagen uns, dass die Emission einer Tonne CO2 schon heute Umweltschäden von rund 180€ verursacht.

Die Rolle Deutschlands

Oft wird das Argument angeführt, Deutschland habe als einzelnes Land einen geringen Anteil an den weltweiten klimaschädlichen Emissionen. Was ist da dran?

Das ist kein Argument, sondern ein Kopf-in-den-Sand-Stecken. Global gesehen machen die direkten CO2-Emissionen in Deutschland 2% aus. Wenn wir aber die Rohstoffe einrechnen, die wir für unsere Industrie importieren müssen, sind wir locker bei 6 bis 7%. Wenn wir nichts machen, würde das für 193 andere Länder bedeuten, auch nichts machen zu müssen. Deren Anteil liegt sogar noch unter 2 %.

Zudem hat CO2 in der Atmosphäre eine Lebensdauer von mindestens 100, meist eher 200 Jahren. Wegen dieser langen Lebensdauer haben wir eine Altlast. Blickt man auf die Emissionen seit Beginn der Industrialisierung, steht Deutschland weltweit auf Platz vier.

Auswirkungen und Prognosen

Was merken wir heute schon vom Klimawandel?

Dazu muss man nicht weit blicken: Der Grundwasserspiegel in der Soester Börde liegt derzeit im Schnitt bei 1,90 m Tiefe. Üblich waren 50 bis 60 cm. Das ist die Folge von „nur“ zwei Hitzesommern.

Die Wahrscheinlichkeit für solche lang andauernden Wetterphasen steigt, denn unser Klimasystem ist zum Großteil abhängig von Strukturen in den arktischen Bereichen. Ein permanentes Tiefdruckgebiet über den kalten Flächen hat bislang immer dafür gesorgt, dass wir sogenannte Jetstream-Winde hatten, die die warme und kalte Luft voneinander getrennt haben. Weil wir immer weniger Eis und immer weniger Tiefdruckgebiete an den Polarkappen haben, beginnen die Luftmassen, sich zu vermischen. Der Jetstream bricht zusammen – und wir bekommen permanent ortsfeste Wetterlagen wie den Hitzesommer 2018.

Wie sind die Prognosen?

Bislang hat ein polarer Eispanzer dafür gesorgt, dass Sonnenenergie wieder ins All reflektiert wird. Prognosen sagen, dass wir im Sommer 2026/27 kein Seeeis mehr haben werden. Das destabilisiert unser gesamtes Klimasystem: Der Ozean wird die Sonnenenergie in Form von Wärme aufnehmen, wir werden den Jetstream nicht mehr verlässlich haben. Das Seeeis ist genauso wie das Auftauen des Permafrostbodens einer der kritischen Kipppunkte. All dies läuft regional schon ab. Wenn wir zulassen, dass es zu globalen Mustern wird, können wir nicht mehr gegensteuern.

Wir haben jetzt fest programmiert eine globale Erwärmung bis Ende des Jahrhunderts um 4 bis 5 °C – im Durchschnitt. Wenn wir in Deutschland Phasen von 45 °C über Wochen haben werden, kann sich jeder selbst ausmalen, was auf den Feldern noch übrig ist. Da werden Themen wie Lebensmittelknappheit oder riesige globale Migrationsströme real.

Ist es noch fünf vor, oder schon fünf nach zwölf?

Wenn man diesen überstrapazierten Begriff noch benutzen will, sollte man ehrlich sein: Es ist nicht fünf Minuten vor zwölf, es ist fünf Sekunden vor zwölf. Wir dürfen jetzt nicht in Fatalismus verfallen. Wir sind nicht ignorant, wir wissen, dass ein Gegensteuern noch machbar und wie es machbar ist.

Gesellschaftliche Polarisierung

Welche Rolle spielen Bewegungen wie Fridays for Future?

In der Gesellschaft bewegt sich etwas. Leute sind bereit, sich zu engagieren und das Thema anzunehmen. Das funktioniert aber nicht im Alleingang. Die Politik muss an den großen Stellschrauben drehen.

Genauso wie es Menschen gibt, die sich engagieren, gibt es solche, die den Klimawandel kleinreden oder leugnen.

Wir sehen eine gesellschaftliche Polarisierung, die durch die Klimaleugner forciert wird. Ich nenne sie Klimalügner, weil jeder, der die Fakten kennt, zu keiner anderen Einschätzung kommen kann. Die Wissenschaft ist sich zu mehr als 99% sicher, dass es ein menschengemachter Klimawandel ist, es gibt keine seriösen Zweifel.

Wie viel Sicherheit braucht mannoch? Ein Beispiel: Sie haben hohes Fieber, wissen nicht, ob Sie die Nacht überleben, gehen in ein Krankenhaus. Dort stehen 10.000 der besten Ärzte der Welt vor Ihnen. 9994 dieser raten Ihnen, sich schnellstmöglich behandeln zu lassen, da Sie sonst die Nacht nicht überstehen. Sechs Ärzte sagen: „Ach’ komm, wird schon nicht so schlimm sein.“ Auf wen hören Sie?

Trotzdem entscheiden sich ­einige, zu warten.

Wenn man die Fakten verstanden hat und an sich ranlässt, wird klar, dass man selbst lange Zeit einen Lebensstil betrieben hat, der aus ökologischen Gründen nicht verantwortbar ist. Das zu akzeptieren, tut weh. Das verstehe ich. In dieser existenziellen Krise brauchen wir aber unbedingt ein „Wir“ und keine Polarisierung. Man kann gerne eine eigene Meinung haben, aber man hat kein Recht auf eigene Fakten. Gegen Naturgesetze kommen wir nicht an.

Man kann gerne eine eigene Meinung haben, aber man hat kein Recht auf eigene Fakten." (Udo Engelhardt)

Wir haben nur noch eine Wahl: Lassen wir den Wandel auf uns zurauschen oder federn wir ihn ab? Noch ist die Chance da. In zehn Jahren brauchen wir darüber nicht mehr zu reden.

Was kann ein jeder tun?

Das Thema als das zu akzeptieren, was es ist: eine hausgemachte Krise. Zu akzeptieren, dass nicht mehr viel Zeit ist. Verstehen, dass noch etwas zu machen ist. Und mit anderen reden.

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