Milchwirtschaft braucht neues Denken

Hess warnt vor Privater Lagerhaltung

Der Hohenheimer Agrarökonom Prof. Sebastian Hess liest der Milchbranche die Leviten: Erzeuger und Molkereien verlassen sich noch zu sehr auf die alten Stützmechanismen.

Vor den Nebenwirkungen der Privaten Lagerhaltung (PLH) von Molkereiprodukten hat Prof. Sebastian Hess gewarnt. „Wo Gewinner sind, sind in Märkten meist auch Verlierer, und die Mengen verschwinden schließlich nicht vom Markt", erklärte der Lehrstuhlinhaber und Leiter des Fachgebiets Agrarmärkte an der Universität Hohenheim. Als Kriseninstrument sei die PLH vor allem deshalb ungeeignet, weil jeder Landwirt und jede Molkerei ein anderes Risikoprofil und auch eine andere Risikoneigung habe. Risikomanagement und Risikovorsorge sollten daher vor allem auf Betriebs- und Molkereiebene und im Hinblick auf die eigene Vermarktungssituation betrieben werden, empfiehlt der Agrarökonom.

Nichts gelernt

Die aktuell fallenden Milchpreise zeigen Hess zufolge einmal mehr die Bedeutung der einzelbetrieblichen Risikoabsicherung, gerade für wachsende Betriebe ohne großen Liquiditätspuffer. Die letzte Preiskrise 2015/16 habe bei vielen Milcherzeugern offenbar nur kurz nachgehallt und die vergangenen zwei, drei Jahre bei der Milch seien auskömmlich gewesen. „Das führte bei den Milcherzeugern zu einem trügerischen Gefühl von Sicherheit", so der Marktexperte.

Die Festpreismodelle einiger Molkereien seien von den Erzeugern auch deshalb bisher nicht übermäßig gut angenommen worden, weil diese auf weiter steigende Preise gehofft hätten. „Was in der Milchbranche fehlt, ist eine ausgeprägte Mentalität fürs Risikomanagement", so Hess. Die Marktbeteiligten würden sich noch zu sehr auf das Interventionssystem und die alten Mechanismen verlassen.

Leere Nudelregale

Den Rufen nach einer stärkeren Autarkie Deutschlands bei Agrarrohstoffen kann Hess nur wenig abgewinnen. Die besondere Leistungsfähigkeit der europäischen Wertschöpfungsketten habe sich in den letzten Wochen durch insgesamt funktionierende Marktkräfte, harmonisierte Standards und intakte Wettbewerbsstrukturen im Binnenmarkt entfalten können, nicht durch das Gegenteil. Auf das Image der Landwirtschaft in der Gesellschaft könnte sich die Pandemie dem Agrarökonomen zufolge durchaus positiv auswirken.

Das alte Thema der Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln dürfte wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt sein, argumentiert Hess. Auch wenn bisher kaum nennenswerte physische Engpässe zu beobachten seien, dürfte die Kollektiverfahrung der zeitweise leeren Nudelregale nachhallen. Der europäische Agrar- und Ernährungssektor habe dabei in den vergangenen Wochen eine beeindruckende Flexibilität und Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. „Der Zeitpunkt wäre günstig, um zu alten Grabenkämpfen nicht mehr zurückzukehren", so der Wissenschaftler.

Stattdessen könnte die Landwirtschaft an einem neuen Wir-Gefühl mit der Bevölkerung arbeiten: Die Landwirtschaft als Produzent erschwinglicher, gesunder und sicherer Nahrungsmittel aus nachhaltiger Produktion, auf die sich die Bevölkerung verlassen könne.

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