Wochenblatt: Herr Dr. Schlüter, welche Erwartungen haben Sie an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft?
Sechs Monate sind schnell um, zumal Abstimmungsprozesse in Brüssel meist Jahre dauern. Dennoch sollte Deutschland auch in dieser kurzen Zeit eigene Akzente setzen. Zum Beispiel beim Tierwohl innerhalb der EU. Aktuell gibt es gegenläufige Entwicklungen: Deutschland erhöht die Standards und baut Tierbestände ab, Spanien oder Polen nehmen es laxer und erhöhen sie. Hier brauchen wir einheitliche Regelungen und Wettbewerbsbedingungen in der EU. Am besten flankiert mit einem Tierwohllabel und einem Konzept der Gegenfinanzierung: Mehr Tierwohl verursacht höhere Kosten, die Landwirte brauchen somit höhere Erlöse.
In Deutschland läuft die Diskussion darüber schon sehr lange und spätestens seit den Vorschlägen der Borchert-Kommission zum Umbau der Tierhaltung auch sehr konkret. Auf EU-Ebene kann Deutschland diese Debatte zumindest anschieben.
Ein Knackpunkt für den europäischen Politikbetrieb ist der noch offene Mehrjährige Finanzrahmen. Was erwarten Sie hier?
Deutschland könnte die Verabschiedung erreichen, vielleicht sogar direkt im Juli. Dann gäbe es endlich Planungssicherheit. Die Debatten zum Mehrjährigen Finanzrahmen laufen seit Mai 2018. Seitdem hat sich einiges getan. Anfangs sollte das EU-Budget schrumpfen, seit dem Vorstoß von Frankreich und Deutschland im Mai dieses Jahres könnte es deutlich steigen. Beide Länder schlagen einen EU-Haushalt von rund 2 % des Bruttonationaleinkommens vor, bisher sind es rund 1 %. Die EU-Kommission selbst hat vorgeschlagen, den Gesamthaushalt auf 1850 Mrd. € für den Sieben-Jahres-Zeitraum 2021 bis 2027 zu erhöhen. Darin soll es einen Wiederaufbaufonds von 750 Mrd. € geben, der vor allem in den ersten Jahren in den Mehrjährigen Finanzrahmen fließen soll. Vor allem, um die Folgen der Corona-Krise abzufedern. Möglicherweise entscheiden die Staats- und Regierungschefs schon im Juli in einer Präsenzveranstaltung in Brüssel darüber, spätestens aber im September.
Gibt es auch mehr Geld für die Gemeinsame Agrarpolitik?
Nicht mehr, aber auch nicht unbedingt weniger. In den vergangenen Jahren gingen die Forderungen eher Richtung Kürzung des Agraretats. Jetzt besteht die Chance auf eine nahezu reale Konstanz, also bereinigt um Brexit, Inflation usw., für die wir lange gekämpft haben. Diese Sicherheit ist für die Landwirtschaft dringend nötig.
Kommen die Verhandlungen über die Gemeinsame Agrarpolitik denn auch zum Abschluss?
Wohl kaum. Die Debatten laufen ebenfalls seit 2018. Zunächst sah es so aus, als würden sich Rat und Parlament bis Oktober dieses Jahres eine Meinung bilden, sodass die Trilog-Gespräche von Kommission, Rat sowie Parlament hätten starten können. Dann hätte es zeitnah eine Entscheidung gegeben. Doch im Juni hat der Umweltausschuss die Verhandlungen mit dem Agrarausschuss plötzlich abgebrochen.
Wir vermuten einen taktischen Schachzug dahinter: Der Umweltausschuss sowie EU-Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans wollen durch die Hintertür mehr Elemente des Green Deal und der Farm-to-Fork-Strategie in die Gemeinsame Agrarpolitik drücken. Dass Timmermans seine „große Transformation“ am Exempel der konventionellen Landwirtschaft umsetzen möchte, bewerten wir als Generalangriff auf die europäische Landwirtschaft, da alle negativen Folgen beiseite gewischt werden.
Wie sollte Deutschland damit umgehen?
Die europäische Landwirtschaft kann sich durchaus stärker Richtung Nachhaltigkeit, Tierwohl, Umweltschutz sowie ökologische Produktion entwickeln. Aber sie muss auch wettbewerbsfähig bleiben. Vor allem, weil Länder wie die USA, China oder die Mercosur-Staaten die Anforderungen eher herunterschrauben. Deshalb fordern wir handelspolitische Anpassungen.
Zwei Beispiele: Produktionsmittel und -techniken, die in der EU verboten sind, dürfen nicht durch Exporte wieder in die EU gelangen. Also für Importgüter eine Null-Toleranz bei Pflanzenschutzmitteln, Antibiotika usw., die in der EU nicht zugelassen sind. Zudem fordern wir eine Steuer auf klimaschädlich hergestellte Produkte, die in die EU gelangen. Wir produzieren den Stahl möglichst klimaschonend, importieren aber klimaschädlich hergestellten Stahl zu günstigen Preisen. Das kann nicht sein – auch nicht bei landwirtschaftlichen Produkten.
Welches Fazit ist Silvester 2020 realistisch?
Mein Wunsch: Die europäische Agrarpolitik ist solide finanziert, Deutschland hat den Mehrjährigen Finanzrahmen abgeschlossen. Julia Klöckner hat die Kommission zu realistischen Forderungen ermahnt und wirtschaftliche Aspekte für Landwirte stärker herausgearbeitet.
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