Statistik

100.000 totgemähte Rehkitze pro Jahr?

Diese Zahl geistert seit vielen Jahren durch die Medien und Ministerien. Jetzt hat sie ein Nachwuchsjournalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einmal überprüft. Er fand Erstaunliches heraus.

Es gibt Zahlen und Statistiken, die gar nicht mehr infrage gestellt, sondern gleich weitergereicht werden. Dazu zählt auch die Angabe, nach der pro Jahr 100  000 Rehkitze der Grünlandmahd zum Opfer fallen, weil sich die Tiere nicht mehr rechtzeitig vor den Mähwerken retten können. 100  000 totgemähte Kitze – seit Jahren geistert diese Zahl durchs Land und findet sich in Stellungnahmen des Bundeslandwirtschafts­ministeriums oder des Bundestags- Petitionsausschusses, in Berichten vom Bayrischen Rundfunk bis zum Deutschlandfunk, vom „Weser Report“ bis zum „Berchtesgadener Anzeiger“. Als Quelle wird gelegentlich auf den Deutschen Jagdverband verwiesen, der diese Zahl vor Jahren ebenfalls in einer Pressemitteilung publiziert hat.

Der angehende Journalist Erik Hecht, der in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) ein Praktikum absolviert, ist nun der Frage nachgegangen, woher diese Zahl stammt und welche Grundlage sie hat. Sein Ergebnis: „Wer diese Zahl, die seit mehr als zehn Jahren kursiert, für zu hoch hält, hat recht: Sie ist erfunden.“ Und weiter: „Wer den Ursprung finden möchte, stößt auf Hörensagen, es wird darauf verwiesen, dass ,Experten‘ diese Zahl geschätzt haben. Viele Artikel führen die Zahl auch ganz ohne Quellenverweis, einfach als scheinbar fixen Wert.“

Spur führt nach Hamburg

Hechts Recherchen endeten bei der Deutschen Wildtier-Stiftung in Hamburg: „Dort erfährt man die Herkunft der Zahl – genauer gesagt, man erfährt, dass die Zahl erfunden wurde. Man wisse auch selbst nicht mehr, wie man einst auf die Hunderttausend kam. Die Stiftung räumt ein, dass 100  000 tote Rehkitze ein viel zu hoher Wert sei. Die Hälfte sei wohl wahrscheinlicher, wenn überhaupt.“

Die derart attackierte Stiftung setzte sich kurz nach Veröffentlichung des „FAZ“-Beitrages zur Wehr. Die Zahl sei „nicht frei erfunden, sondern nach statistischen Kriterien berechnet – das ist ein großer Unterschied!“

Landwirte würden sich nicht selbst anzeigen, wenn sie ein Rehkitz ausgemäht haben, argumentiert die Wildtier-Stiftung. Deshalb gebe es keine gesicherten Zahlen, sondern man sei auf Hochrechnungen angewiesen. In Mecklenburg-Vorpommern seien in diesem Frühjahr auf 500 ha 40 Rehkitze per Drohne aufgespürt und „vor dem Mähtod gerettet“ worden. Daraus schließt die Stiftung, „dass acht Rehkitze auf 100 ha vom Mähtod bedroht waren“. Zwingend ist dieser Schluss nicht, denn ob jedes der per Drohne geretteten Tiere tatsächlich auch vom Mähwerk getötet worden wäre, muss ja offen bleiben. Es weiß schlicht niemand.

Nach unten korrigiert

Ohnehin setzt die Stiftung mit ihrer Hochrechnung deutlich niedriger an: nicht bei acht, sondern bei vier Rehkitzen auf 100 ha Grünland. Aus dem per Schnittnutzung bewirtschafteten Grünland von 2,3 Mio. ha Fläche ergebe sich die Zahl von 92  000 Kitzen. Erstaunlicherweise korrigiert die Stiftung ihre Schätzung noch einmal nach unten: „Die Wahrheit liegt zwischen 100  000 und 50  000 betroffenen Rehkitzen!“

Nun ist jedes durch Mahd verletzte oder getötete Rehkitz eines zu viel. Darin sind sich alle Beobachter – ob Landwirt, Jäger oder Naturschützer – einig, und sie tun alljährlich eine Menge, um genau das zu verhindern. Aber die sommerliche Mediendebatte zeigt zweierlei:

  • Zahlen und Statistiken täuschen eine Genauigkeit vor, die nicht immer vorhanden ist.
  • Gerade Journalisten tun gut da­ran, auch scheinbar Selbstverständliches, seit Jahren unbedacht Wiederholtes infrage zu stellen.

Dem „FAZ“-Autor Erik Hecht ist also zuzustimmen, wenn er mit den Worten schließt: „Die Zahl von 100  000 toten Rehkitzen durch Mäharbeiten wurde den Bauern jährlich vorgehalten. Die vollkommen überzogene Zahl mag dazu beigetragen haben, dass sich um die Rehkitze verstärkt gekümmert wurde. Dennoch ist erstaunlich, dass die Zahl nie infrage gestellt worden ist.“