Zukunft mit Dahlien

Den diesjährigen Kommentar zum Erntedank schreibt Andreas Sentker. Er leitet die Wissenschaftsredaktion der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ und ist Herausgeber des Magazins „ZEIT WISSEN“.

Wenn Herbert mal wieder auf dem Trecker sitzt, feiert Clarholz Erntedank. Der große Festumzug hat in der kleinen ostwestfälischen Gemeinde Tradition. Die Erstklässler der Wilbrandschule haben sich als fleißige Gartenzwerge verkleidet. Die Kolpingfamilie kommt mit Sombrero daher (sie unterstützt ein Pilzzuchtprojekt in Mexiko). Der Kirchenchor und der Männergesangverein sind dabei, Imker, Geflügelzüchter und Schützen, die Landjugend und die Landfrauen, die evangelische und die katholische Kirche.

Erntedank – das ist in Clarholz jedes Jahr ein Fest. „Der größte und schönste Umzug Deutschlands“, so rühmt sich die Erntedankgemeinschaft und wirbt mit „farbenfrohen Motiv- und Blumenwagen aus Tausenden bunten Dahlienblüten“, mit „aktuellen und humorvollen Themenwagen“ und „fantasievollen Fußgruppen“.

Volle Supermarktregale – und keiner denkt an Erntedank

Herbert, der eigentlich einmal Elektriker war, sitzt auf einem knallroten McCormick d 320. An diesem Tag holen viele Landwirte ihre liebevoll restaurierten Schlepper aus dem Schuppen. Doch was Herbert da am 2. Oktober 2016 hinter sich herzieht, ist Landtechnik von morgen: eine Drohne, geformt aus Hunderten roten und orangenen Dahlienblüten, ein bunt getarnter Fremdkörper inmitten bäuerlichen Brauchtums.

Schon der Erntedank der Gegenwart ist für viele Menschen ein Relikt aus alter Zeit, mehr Tradition als Sinnstiftung. Kaum einer der Zuschauer in Clarholz wird sich erinnern können, dass auch Menschen in Europa nach schlechten Ernten noch Hunger fürchten mussten.

Das überbordende Angebot im Supermarktregal lässt die bäuerliche Arbeit oft vergessen, die in den Produkten steckt. Längst haben wir uns auch von den Jahreszeiten verabschiedet, irgendwo auf der Welt werden schließlich immer Erdbeeren, Bohnen oder Tomaten geerntet.

Wie sieht die Zukunft der Landwirtschaft aus?

Wie wird erst der Erntedank der Zukunft aussehen? Wenn der Landwirt seine Drohnen zur Kontrolle über die Felder schickt? Wenn er seine Traktoren vom Büro aus steuert? Wenn Roboter die Aussaat übernehmen, die Pflege und die Ernte? Wenn Laser das Unkraut vernichten? Wenn Satelliten Mähdrescherflotten dirigieren? Wenn der Salat für die Städter im Hochhaus wächst und das Steak im Labor statt im Stall?

Die Clarholzer Drohne, unter ihrem Dahlientarnkleid steht sie für die großen Fragen an die Zukunft der Landwirtschaft. Digitalisierung und Automatisierung, die wachsende Autonomie von Fahrzeugen und Systemen, die Hoffnungen von Big Data und Künstlicher Intelligenz – wie in fast allen Lebensbereichen halten sie auch auf dem Acker und im Stall Einzug.

Die Zukunft zur Versöhnung nutzen

Das wird die Wahrnehmung der Landwirtschaft verändern. Schon jetzt ist die Sehnsucht nach ländlicher Idylle bei jenen am größten, die den Alltag auf dem Land am wenigsten kennen. Schon jetzt wachsen die Kontraste und Konflikte: bäuerliches Handwerk hier, industrielle Effizienz dort, groß gegen klein, gut gegen böse, weiß gegen schwarz.

Dabei könnte die technische Zukunft Ökologie und Ökonomie miteinander versöhnen. Wenn Roboter den Mischfruchtanbau möglich machen, bei dem sich Pflanzen gegenseitig vor Schädlingen schützen. Wenn Laserstrahlen umstrittene Herbizide ersetzen. Wenn Precision Farming den Einsatz von Düngemitteln und nebenbei den Verbrauch von Diesel reduziert. Wenn Smart Breeding neue resistente Sorten hervorbringt. Wenn digitalisierte Schlagkarteien auch die Planung von Umwelt- und Artenschutzmaßnahmen erleichtern.

Wie der Erntedank der Zukunft aussieht, bestimmt nicht die Technik allein, sondern unser Umgang mit ihr. Aus dieser Perspektive ist die Clarholzer Drohne plötzlich gar kein Fremdkörper mehr, sind ihre Dahlien kein Tarnkleid, sondern eine Aufforderung, die Landwirtschaft von morgen aktiv zu gestalten.