Kommentar

Tönnies: Das Ganze im Blick behalten

Die Ansteckungskatastrophe bei Tönnies zeigt: Unternehmen der Fleischbranche haben jegliches Vertrauen verspielt. Seit 2015 gilt eine freiwillige Selbstverpflichtung, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Passiert ist nicht viel.

Nach der Ansteckungskatastrophe im Tönnies-Werk überschlagen sich die Rufe nach einem Totalumbau der „Fleischindustrie“. Wobei dazu viele Politiker und Kommentatoren auch die Landwirtschaft zählen. Dass jetzt wieder ein kompletter Lockdown für den Kreis Gütersloh angeordnet wurde, heizt die Diskussion nur weiter an. Die Forderungen werden noch radikaler ausfallen.

Tönnies und auch andere Unternehmen der Fleischbranche haben mittlerweile jegliches Vertrauen verspielt. Sie haben die seit 2015 geltende freiwillige Selbstverpflichtung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten nicht flächendeckend umgesetzt; so blieb sie in weiten Teilen wirkungslos. Das hat allerdings die Politik bisher kaum gestört. Erst Corona bringt das Thema wieder auf die Tagesordnung. Und jetzt muss alles ganz schnell gehen.

Wenn nun auch Unions-Agrarpolitiker plötzlich nach regionalen Schlachtbetrieben rufen, so ist das entweder blauäugig oder scheinheilig. Genau das gab es früher einmal. Kommunale Schlachthöfe oder kleinere private Schlacht- und Zerlegebetriebe, die für die Versorgung des Umfeldes „zuständig“ waren. Genau wie es die kleinen selbstständigen Lebensmittelhändler gab. Das alles ist weitgehend verschwunden.

Die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels hat sich dramatisch verändert, mit Zustimmung der Regierenden. Was das für die Lieferanten bedeutet, auch Schlachthöfe, Fleischverarbeiter oder Molkereien, wissen wir seit Langem. Doch die Konzentration geht weiter und der Gesetzgeber schaut zu.

Längst ist Alltag, dass für die „Partner“ des Handels nicht mehr gesetzliche Vorschriften maßgeblich sind, sondern Standards, die Edeka, Rewe, Aldi oder Lidl/Kaufland setzen. Nicht nur in Bezug auf Mengen und Preise, sondern auch mit Blick auf Beschaffenheit und Qualität. Nicht zu vergessen: zum niedrigsten Preis. Wer nicht die geforderte Menge in genau definierter Qualität liefern kann, hat Pech gehabt, wird ausgelistet. Ein kleiner Schlachtbetrieb, der die peniblen Hygienevorschriften des Bundes und der EU erfüllen muss, kann da preislich nicht mithalten.

Alle wollen jetzt Veränderung. Doch es geht nicht nur um die Fleischindustrie und die Tierhaltung, es geht um die gesamte Lebensmittelkette: Landwirtschaft, Schlacht-und Verarbeitungsbetriebe, deren Arbeitnehmer, Lebensmitteleinzelhandel und schließlich die Konsumenten.

Der Düsseldorfer Arbeitsminister Karl-Josef Laumann will in der Fleischbranche „aufräumen“. Sein Berliner Kollege Hubertus Heil kündigt dasselbe an. Gut so! Aber bitte nicht nur dort, sondern überall, wo Werkverträge üblich sind, wo Marktmacht missbraucht wird, wo Vorschriften missachtet werden. Jetzt ist nicht die Zeit für Schnellschüsse, sondern für den „großen Wurf“. Der wäre jetzt angebracht.

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