Mit 23 Jahren machte Felix sich als Handelsvertreter für Futtermittel selbstständig. „Ich war jung und hatte einen Plan“, sagt der gelernte Landwirt. „Es lief auch alles nach Plan – aber der Plan war einfach schlecht“, resümiert heute der 40-Jährige. Der Bauernsohn zog die Reißleine. Früh genug, um nicht Insolvenz beantragen zu müssen. Und dennoch stand er am Ende seiner gut zweijährigen Selbstständigkeit mit einem fünfstelligen Schuldenbetrag da. Er hatte versagt. Als Versager würde er sich dennoch nicht bezeichnen – und „das ist auch richtig so“, untermauert Arbeits- und Organisationspsychologe Michael Frese.
Erfolgreiche Selbsttäuschung
Felix’ Plan für den Start als selbstständiger Handelsvertreter für Pferdefutter sah wie folgt aus: Die Ausgaben fürs Leben wollte er so gering wie möglich halten. Die Kosten fürs Auto waren überschaubar. Er wohnte weiterhin bei seinen Eltern und lebte sparsam. So sollte es laufen, zumindest bis er den Vertrieb der Futtermittel etabliert hätte. Mit einem kleinen Fixgehalt sowie einer Umsatzbeteiligung vom Futtermittelhersteller sollte das schon klappen. So zumindest der Plan.
Felix begann mit seiner Arbeit. Er bemühte sich nach Kräften, neue Kunden zu gewinnen. Dabei merkte er nicht, dass seine Kosten höher waren als seine Umsätze. Außerdem wuchsen seine finanziellen Belastungen weiter. „Ich brauchte ein größeres Auto und es folgten weitere Ausgaben, die ich vorher nicht geplant hatte“, resümiert Felix. Doch all das ließ sich nicht über die Umsätze finanzieren. Wahrhaben wollte der damals 25-Jährige es jedoch nicht. Er arbeitete weiter und blendete aus, dass er Monat für Monat bei der Bank weiter ins Minus rutschte. „Bis ich dieses Delta zwischen Einnahmen und Ausgaben wahrgenommen hatte, gingen ein paar Monate ins Land“. Die Steuerberaterin wies Felix darauf hin, dass seine Zahlen nicht passten. Er vertröstete sie auf das nächste Jahr. Dann würde alles besser. „Ich habe auch mich sehr erfolgreich selbst getäuscht“, sagt Felix rückblickend.
Keine Toleranz für Fehler
Nicht einmal die Forderungen des Finanzamtes, die eines Tages auf dem Tisch lagen, belehrten ihn eines Besseren. Obwohl er auch sie nicht begleichen konnte. Erst als der Futtermittelhersteller, dessen Produkte er vertrieb, das Provisionsmodell änderte, dämmerte es Felix, dass er nicht auf einen grünen Zweig kommen konnte. Er zog die Reißleine und löste seine Firma auf. Zurück blieb er mit seinen Schulden, Scham und einer Menge Selbstzweifel.
„Das sind sehr typische Gefühle“, bestätigt Michael Frese, der seit 2020 als Professor für Organisation und Management in Kuala Lumpur in Malaysia tätig ist. Der studierte Psychologe forscht seit 1985 zum Umgang mit Fehlern in Unternehmen und der Gesellschaft. „Wir Deutschen tolerieren keine Fehler“, weiß er, „gegenüber anderen, aber auch gegenüber uns selbst.“
Kurz vor dem Rohrstock
Frese weiß, wovon er spricht – zumindest in der Theorie. Er hat internationale Daten ausgewertet und dabei herausgefunden, dass die Deutschen auf Rang 60 von 61 Ländern stehen, wenn es um Fehlertoleranz geht. Nur Singapur ist noch intoleranter – ein Land, in dem Fehlverhalten noch mit Stockhieben geahndet wird.
Studie: Fehlertoleranz
Im Rahmen der GLOBE study 2004 befragten Forscher 17 000 Personen aus dem mittleren Management von Unternehmen aus 61 Ländern. Diese bewerteten ihre eigene Unternehmenskultur und den Umgang mit Fehlern.
Professor Frese hat die Daten ausgewertet. Noch befindet sich seine Arbeit, wie in der Wissenschaft üblich, in der Bewertung durch neutrale Gutachter. Sie ist noch unveröffentlicht.
Zugegeben, Stockhiebe hat Felix seinerzeit nicht erhalten. „Aber am Selbstwertgefühl hat es schon gekratzt“, gesteht Felix. Familie und Freunde weihte er daher nicht unmittelbar ein. Und dennoch: „Sie wussten alle, dass es bei mir beruflich nicht optimal lief.“ Nachgefragt oder Hilfe angeboten habe trotzdem niemand.
„Tolle Unternehmer sind häufig mal in ihrem Leben gescheitert“, weiß Professor Frese. Seiner Erfahrung nach liegt der Unterschied darin, wie man mit seinen Fehlern umgeht, ob und was man aus ihnen lernt. Glaubt man den Geschichten um den Gründer von Paypal, dann soll er gar viermal mit seinen Unternehmen gescheitert sein, eh er den Milliarden schweren Online-Bezahldienst gründete. Er hat Fehler gemacht, aber er hat auch aus ihnen gelernt. Frese nennt das eine „positive Fehlerkultur“. Und genau das ist es, was Felix sich von seinem Umfeld gewünscht hätte: Interesse am „Warum“. „Anstelle von Mitleid oder den später folgenden Aussagen wie ‘hätte ich dir vorher sagen können’, wäre es auch schön, wenn mal einer gefragt hätte, was ich daraus gelernt habe.“
Erzähl mir von deinen Fehlern
Scheitert heute jemand in Felix Umfeld, dann stellt er genau diese Frage. Manchmal erzählt er seinem Gegenüber auch seine Geschichte vom betrieblichen Scheitern. In diesem Beitrag möchte Felix dennoch nicht mit echtem Namen stehen. „Die Blicke und Worte der anderen sind nicht immer leicht zu ertragen“, erzählt er.
„Genau das ist typisch deutsch“, bestätigt Arbeits- und Unternehmenspsychologe Frese, „in Amerika würde jeder freudestrahlend öffentlich erklären, wie und warum er gescheitert ist.“ Mit dem Unterschied, dass die Umstehenden ihn nicht mit Kritik und Argwohn, sondern mit Fragen überschütten würden. Dort interessiere man sich mehr dafür, wie es passiert sei und was derjenige daraus gelernt habe, ist sich Frese sicher. Aus den Fehlern anderer zu lernen ist auch das Konzept der so genannten „Fuckup Nights“, die in verschiedenen Orten der Bundesrepublik stattfinden. „Formate in denen gescheiterte Personen von ihren Erfahrungen berichten, sind besonders wertvoll für einen konstruktiven Umgang mit Fehlern“, ist Frese überzeugt.
Fuckup Nights: Öffentlich scheitern
Die Idee stammt ursprünglich aus Mexiko: Dort überlegten sich 2012 fünf Freunde das Thema Scheitern auf die Bühne zu holen. Mutige erzählten von ihren Fehlschlägen bei der Gründung eines Unternehmens – möglichst unterhalsam und vor Publikum. Ihr Konzept nannten sie „Fuckup Night“, auf Deutsch heißt das so viel wie „Nacht der Missgeschicke“.
Mittlerweile gibt es Nachahmer rund um den Globus. In Deutschland zum Beispiel in Düsseldorf und Köln, in Frankfurt und Berlin, aber auch in Münster, Arnsberg und Gütersloh. Jeweils drei bis vier Sprecherinnen und Sprecher erzählen von Ideen, die nicht zündeten, Fehlentscheidungen und Insolvenzen. Oft stellen sie sich anschließend auch den Fragen des Publikums. Manchmal wird aus den Beiträgen anschließend ein Podcast. In Berlin hat sich eine „Gesellschaft für Fehlerkultur“ gegründet.
2016 war auch Christian Lindner, heute Bundesfinanzminister, dabei. Bei einer Fuckup Night in Frankfurt berichtete er vom Scheitern eines Unternehmens, das er während des Studiums mit Freunden gegründet hatte.
Auf der Bühne zeigen sich Menschen, die zu ihren Fehlern stehen, aus ihnen gelernt haben und ihr Wissen weitergeben wollen. Fuckup Nights sollen zeigen: Aufstehen lohnt sich und Fehler zu machen, das gehört dazu.
Mittlerweile laden auch Unternehmen zu internen Fuckup Nights ein. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erzählen dann von Projekten, die in einer Sackgasse landeten. An Hochschulen berichten Wissenschaftler von gescheiterten Forschungsvorhaben und Studierende von der falschen Fachwahl. In Köln gibt es inzwischen sogar die „Fail Days“, also „Tage des Scheiterns“. Sie richten sich an Studierende, die der Uni den Rücken kehren möchten und andere berufliche Perspektiven suchen. Die „Fail Days“ vermitteln Kontakte zu Unternehmen, die um Studienabbrecher als Auszubildende buhlen.
Intoleranz ist auch gut
Eine positive, konstruktive Fehlerkultur setzt nicht unbedingt ein Höchstmaß an Fehlertoleranz voraus. Denn Fehlertoleranz ist kein Allheilmittel. Frese sagt viel mehr: „Ein gewisses Maß ist gut“ und verweist damit auf ein weiteres Forschungsergebnis: In Ländern wie Singapur und Deutschland, den fehlerintoleranten Staaten, ist die Anzahl der Verkehrstoten geringer als in anderen fehlertoleranteren Ländern. „Hierzulande bemüht sich jeder, keine Fehler, also auch keine Verkehrsunfälle, zu verursachen – weil sie eben nicht geduldet werden.“
Freses Fazit: „Fehler zu machen ist in Ordnung. Dennoch sollten wir versuchen, sie zu vermeiden. Sind Fehler passiert, dann müssen wir aus ihnen lernen – und zwar möglichst schnell.“
Das braucht es zum Leben
Felix hat schnell gelernt. Während er angestellt bei einem Landwirt arbeitete, machte er sich erneut selbstständig. Binnen drei Jahren stotterte er seine Schulden ab. Doch sein finanzielles Fiasko vergaß er nicht. Es prägte ihn nachhaltig: Seitdem rechnet er all seine Unternehmungen stets anhand verschiedener Szenarien. „Die meisten Worst-Case-Szenarien sind noch zu positiv“, sagt er. Daher kalkuliert er pessimistischer als viele andere – auch als die Banken. Außerdem konzentriert er sich nicht mehr auf Kosten und Umsatz: „Ich schaue zuallererst darauf, wie viel ich für ein gutes Leben brauche. Dann rechne ich rückwärts, wie viel ich von den verschiedenen Produkten produzieren und verkaufen müsste, um mein selbstgesetztes Ziel zu erreichen.“ Mit Erfolg.
Heute führt Felix den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Familie weiter. Immer wieder stellt er dabei die verschiedenen Betriebszweige auf den Prüfstand: „Erwirtschafte ich in einem Bereich nicht genug, dann verändere ich etwas.“ Felix hat seine eigenen Fehler erkannt, sie sich eingestanden und ist sie konstruktiv angegangen.
Alle Fehler selbst machen?
Doch das gelang ihm nicht von heute auf morgen. Rückblickend meint Felix zu wissen, was ihm den Prozess erleichtert hätte: „Ein externer Mentor, der mich als Außenstehender, ohne Eigeninteresse an mir oder meinem Betrieb gecoacht hätte.“ In seiner Wunschvorstellung hätte der Coach selbst zahlreiche Fehler in seinem Leben gemacht. „Denn dann weiß er umso besser, wovon er spricht“, sagt Felix schmunzelnd.
Heute übernimmt Felix für junge Menschen in seinem Umfeld, die sich in der Unternehmensgründung befinden, gelegentlich die Rolle des Mentors. „Dann kommen wir nebenbei schon mal auf mein eigenes Scheitern zu sprechen – doch auf großer Bühne davon zu erzählen, das würde ich mich nicht trauen“, sagt Felix, „noch nicht!"
Lesen Sie mehr: