Beim Blick auf die Stromrechnung sehen heute viele angesichts der enorm gestiegenen Preise einfach nur rot. Einer, den es hart erwischt hat, ist Julius Aundrup. Für den Landwirt aus Senden hat sich der Preis für seinen Zukaufstrom im Vergleich zum Vorjahr etwa verdreifacht.
Stromrechnung verdreifacht
Für seinen Betrieb mit rund 800 Sauen kommt da einiges zusammen. Jährlich benötigt er rund 180.000 kWh Strom. Rund ein Drittel kann er mit Hilfe eigener Photovoltaik-Anlagen decken. Den Rest muss er zukaufen. Im Jahr 2021 hat ihn der Stromzukauf insgesamt rund 27.000 € gekostet. Das waren 2.300 € im Monat. Im Juli und August diesen Jahres musst Aundrup einen monatlichen Abschlag von je 7.200 € zahlen, im September lag der Abschlag bei 6.000 €. Bleibt es dabei, steigt seine Jahresrechnung auf satte 72 000 €. Geld, das ihm auf dem Konto fehlt.
„Die hohen Stromkosten sind natürlich nicht der einzige Grund, warum wir mit unseren Sauen im Moment Geld verlieren. Auch die anderen Energieträger und Betriebsmittel haben sich enorm verteuert, unsere Erlöse passen nicht dazu“, sagt der Ferkelerzeuger. Was ihn beim Strom besonders stört: „Ich habe absolut keinen Einfluss mehr“, sagt er.
In der Vergangenheit hat Aundrup den Preis für seinen Bezugsstrom regelmäßig über Jahres- oder Zweijahresverträge festgemacht. Ende 2021 lief der letzte Vertrag aus. Auf einen neuen Vertrag hat er verzichtet, weil im der angebotene Preis von rund 29,5 ct/kWh netto zu hoch erschien. Stattdessen hat er sich an einen Stromhändler gewandt. Über diesen kauft er nun an der Börse Strom. Ein Fehler, wie er heute weiß: Die hohen Preise haben ihn voll erwischt.
Gründe für den Preisanstieg
Bis vor etwa 1,5 Jahren sah die Welt noch ganz anders aus. Die Börsenstrompreise in Deutschland kannten nur eine Tendenz: Bergab. Von Jahr zu Jahr sank der Jahresdurchschnittspreis auf einen neuen Tiefststand. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer ist zum Beispiel der Ausbau der erneuerbaren Energien. Und das verbunden mit niedrigen Erdgas- und CO2-Preisen.
Bereits ab Sommer 2021 aber ändertes sich dies: Gas wurde knapper und somit teurer, die Strompreise stiegen kontinuierlich. Ab November reihte sich eine Stromspitze nach der anderen. Nach Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine verstärkte sich das noch einmal. Ab Juni 2022 stiegen die Durchschnittspreise mit starken Schwankungen weiter bis auf ein Zwischenhoch Anfang September mit einem Tagesdurchschnittspreis (Intradayhandel) von über 66 ct/kWh. Mittlerweile (Stand 19.10.2022) liegen die Börsenpreise wieder auf einem niedrigeren, im Vergleich zu den vergangnen Jahren aber immer noch hohem Niveau mit Durchschnittspreisen (Intradayhandel) Mitte Oktober zwischen etwa 33 und sogar unter 10 ct/kWh.
Woran es genau liegt, dass die Strommärkte so aus den Fugen geraden sind, lässt sich nur über das Zusammenspiel mehrerer Dinge erklären. „Da ist ein ganzer Strauß an Einflussfaktoren“, sagt Prof. Uwe Holzhammer, Experte für Energiesystemtechnik an der TH Ingolstadt. Eine Rolle spielt das europaweit gesunkene Stromangebot, das sich nicht allein über die Erdgasknappheit erklären lässt: Unter anderem fehlt Atomstrom aus Frankreich. Aufgrund der Trockenheit ist aber auch in Norwegen oder Österreich die Stromproduktion aus Wasserkraft gesunken. Als Folge war das Angebot bei hoher Nachfrage knapp. Die Preise stiegen immer weiter.
Zudem reagiert der Strommarkt ähnlich wie zum Beispiel der Getreidemarkt auf Nachrichten und Stimmungen. Ein Teil des Marktgeschehens beruht auf Spekulation. Ist von Stromknappheit die Rede, steigen die Preise für die zur Stromproduktion eingesetzten Energieträger und damit der Strompreis selbst. Vielleicht sind es nun auch die Überlegungen zur Gas- und Strompreisbremse, die die Preise im Oktober sinken ließen.
Gaspreis und Merit-Order
Obwohl Erdgas nur einen relativ geringen Anteil an der Stromerzeugung ausmacht – vor Mitte 2021 hatte Erdgas einen Anteil von rund 13 % an der deutschen Stromproduktion, heute sind es rund 11 % – ist sein Einfluss auf den Strompreis bedeutend. Hauptgrund hierfür ist das Merit-Order-Prinzip. „Merit-Order beschreibt die Reihenfolge, in der die verschiedenen Kraftwerke geordnet nach ihren momentanen Erzeugungskosten zum Einsatz kommen können“, erklärt Holzhammer. Das funktioniert vereinfacht gesagt so: Je nach aktueller Stromnachfrage müssen unterschiedlich viele Kraftwerke Strom produzieren. Um nun zu bestimmen, wer Strom liefern darf, geben Kraftwerksbetreiber ihr Minimalgebot ab. Das ist der Preis, den sie benötigen, um in dem Moment alle Betriebskosten zu decken und ohne Verlust Strom produzieren zu können. Die Nachfrageseite gibt ihrerseits ein Höchstgebot ab, zu dem sie eine bestimmte Strommenge beziehen würde.
Strom produzieren dürfen dann immer die jeweils günstigsten Kraftwerk. Und das so lange, bis die nachgefragte Strommenge und dessen maximaler Preis mit der angebotenen Strommenge und dessen minimalem Gebotspreis übereinstimmt. Die letzte gehandelte Kilowattstunde aus dem letzten Kraftwerk, das einen Zuschlag bekommen hat, ist die teuerste. Ihr Preis gilt dann aber auch für alle anderen zu dem Zeitpunkt gehandelten Kilowattstunden. Auch wenn diese ursprünglich günstiger angeboten wurden. Auf der anderen Seite bekommen aber auch alle Abnehmer diesen Preis. Auch wenn sie bereit gewesen wären, mehr zu bezahlen.
„An dieser Stelle plobbt bei vielen die Frage auf: Ist das gerecht, das die günstigen Kraftwerke mehr Geld kriegen als sie eigentlich brauchen?“, sagt Holzhammer. „Die Idee dahinter ist aber folgende: Die Kraftwerke bieten den Strom zu Grenzkosten an. Verlangen also nur die variablen Kosten, die bei der Produktion entstehen. Kurzfristig ist das wirtschaftlich tragbar. Langfristig müssen sie aber mehr Geld erzielen, um auch die Fixkosten decken zu können. Betreiber möchten also durch ein möglichst geringes Gebot sicherstellen, dass sie Strom verkaufen können, hoffen aber gleichzeitig, dass auch andere, teurere Kraftwerke zum Zuge kommen und sie über den dann gezahlten höheren Preis auch ihre Fixkosten decken können.“
Diese Vorgehensweise hat das Ziel, den Börsenstrompreis möglichst niedrig zu halten. Denn durch das Merit-Order-Prinzip verkleinert sich die Gefahr, dass Betreiber aus strategischen Überlegungen überhöhte Gebote abgeben. Tun sie dies, kann es sein, dass sie keinen Zuschlag erhalten. Bieten sie ehrlich, haben sie aber die Chance nicht nur ihre Grenzkosten, sondern auch einen Teil der Fixkosten decken zu können oder gar Gewinn zu erwirtschaften. „Lange Jahre war das Merit-Order-Prinzip damit volkswirtschaftlich die beste Lösung und hat dazu beigetragen, die Börsenstrompreise niedrig zu halten“, ist sich Holzhammer sicher.
Billigmacher Erneuerbare
Die Grenzkosten der verschiedenen Kraftwerksarten sind unterschiedlich hoch. Photovoltaik- und Windenergieanlagen sind die günstigsten Kraftwerke. Einmal gebaut, müssen sie für ihre Stromproduktion (so gut wie) keine variablen Kosten decken – Wind und Sonne stellen eben keine Rechnung. Die Grenzkosten dieser Kraftwerke liegen also (zumindest theoretisch) bei Null. Relativ günstige Preise können auch Betreiber von Atomkraftwerken bieten. Atomkraftwerke haben keine Möglichkeit ihre Produktion flexibel hoch- oder runterzufahren. Einmal in Betrieb, müssen sie verhältnismäßig kontinuierlich produzieren. Ihre Grenzkosten sind ebenfalls niedrig. Danach kommen Braunkohlekraftwerke mit etwas größerem, aber immer noch geringem Reaktionsvermögen und entsprechend geringen Grenzkosten.
Am schnellsten können Gaskraftwerke auf Schwankungen von Stromangebot oder - nachfrage reagieren. Ein schneller Ausgleich ist notwendig, um die Stromversorgung stabil zu halten. Viele Gaskraftwerke sind genau für diesen Zweck gebaut worden und wiesen schon in der Vergangenheit in der Regel die höchsten Grenzkosten auf.
Mit den Erdgaspreisen sind nun aber die Grenzkosten der Gaskraftwerke stark gestiegen. Kommen sie als teuerstes Kraftwerk über das Merit-Order-Prinzip zum Zug, hat damit der Erdgaspreis einen bedeutenden Einfluss auf den ermittelten Strompreis. Als Folge der sehr hohen Gaspreise ist deshalb auch der Strompreis entsprechend mitgezogen. Die Gaskraftwerke arbeiten zum Teil nach wie vor gerade so kostendecken, die anderen günstigeren Kraftwerke fahren allerdings hohe Gewinne ein. „Nicht das Merit-Order-Prinzip ist das eigentliche Problem. Das Problem ist, das die Erdgaspreise so hoch sind, dass sie mittels des Prinzips die Strompreise explodieren lassen“, sagt Holzhammer.
Was kommt in Zukunft?
„Wohin genau sich die Strompreise in der Zukunft entwickeln, ist nicht abzusehen“, sagt Holzhammer weiter. Dafür ist zu vieles offen. Hier nur einige Fragen: Wie entwickelt sich der Krieg in der Ukraine? Wie sieht es mit der Gasversorgung im Winter und im kommenden Frühjahr aus? Wann und in welchem Umfang gehen die französischen Atomkraftwerke wieder ans Netz? Wie schnell können zusätzliche erneuerbare-Energien-Strommengen integriert werden? Wie flexibel können Biogasanlagen den Strom in Hochpreisphasen preisdämpfend liefern? Und natürlich auch: Wie entwickelt sich die Stromnachfrage und wie entwickeln sich die Preise der anderen Energieträger Flüssigggas, Kohle und Erdöl?
Offen ist zurzeit auch noch, welche Maßnahmen zu Gas- und Strompreisbremse tatsächlich beschlossen werden und welche Wirkung diese dann erzielen.
Aktuell haben sich die Börsenstrompreise etwas entspannt, liegen aber immer noch weit über dem Niveau von vor eineinhalb Jahren. Das es zu einer Rückkehr auf das alte Niveau kommt, kann Holzhammer sich nicht vorstellen. „Ich empfehle allen – egal, ob landwirtschaftlicher Betrieb oder Privathaushalt: Nehmen Sie die Situation ernst und prüfen Sie genau, wo sie Strom sparen können. Gehen Sie gezielt über ihren Hof und schauen Sie, wo was möglich ist. Das ist im Moment der einzige Hebel, den Sie selbst in der Hand haben. Auf der Preisseite können Sie im Moment nichts tun.“
Und mittelfristig?
Mittelfristig hält Holzhammer eine bessere Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Stromabnehmer und -lieferant für unerlässlich. Die durchschnittlichen Strompreise, so seine Schätzung, werden mindestens noch ein bis zwei Jahre auf sehr hohem Niveau bleiben. Das Stromangebot und damit auch der Preis werden weiter stark schwanken. Gerade wenn noch mehr Wind- und Sonnenstrom ins Netz kommt. Dann, so Holzhammer, wird es auch Aufgabe der Nachfrageseite zu helfen, die Stromversorgung stabil zu halten. „Auch die Verbraucherseite muss flexibel werden, also zumindest einen Teil ihrer Stromabnahme in Zeiten verschieben, in denen das Stromangebot hoch ist “, sagt Holzhammer und fügt hinzu: „Es ist heute schon beeindruckend, womit sich Landwirte und Landwirtinnen auseinandersetzen. Aber dieser Herausforderung werden sie sich auch noch stellen müssen.“
Wirtschaftlich lohnen wird sich diese flexible Stromabnahme, so seine Einschätzung, in Zukunft auf jeden Fall. „Betreiber von Wind- und Photovoltaikanlagen werden ihren Strom auch zukünftig zu Grenzkosten von Null anbieten. Je höher das Angebot an Wind- und PV-Strom desto eher wird es Zeitfenster geben, in denen die Börsenstrompreise sehr niedrig sind“, sagt Holzhammer. Auf der anderen Seite zum Beispiel in Zeiten einer Dunkelflaute werden die Preise auch extrem hoch sein können. „Diese hohen Preise brauchen die Residualkraftwerke dann aber auch, um sich in den wenigen Stunden im Jahr, zu denen sie Strom liefern, finanzieren zu können“, so der Experte.
Preisschwankungen notwendig
Was genau kommen wird, weiß natürlich auch Holzhammer nicht: Wird der Markt alles richten oder braucht es eine gezielte Förderung, um auch die Nachfrageseite zu flexibilisieren? Fest steht für den Wissenschaftlicher, dass die Preisschwankungen notwendig sind, um einen erforderlichen Anreiz zu setzen. Der Markt und eventuell auch unterstützende Förderungen werden dann entscheiden, ob und inwieweit Landwirte selbst in Technik und/oder Batteriespeicher investieren oder andere Anbieter große Speicher aufbauen, deren Nutzung dann über den Strompreis entlohnt wird. Die Innovationskraft der Energiemarktakteure, wie auch der Landwirte, so seine Hoffnung, wird wieder moderatere Jahresdurchschnittspreise erzeugen.
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