Kontrovers: Pressestimmen

Tierhaltung: „Wir brauchen dringend eine ehrliche Diskussion“

Hohe Tierwohl-Versprechen des Handels, abgestürzte Erzeugerpreise, hehre Verbraucherwünsche – und eine verschwundene VW-Currywurst: Ein Blick in aktuelle Medienkommentare

Allgemeine Fleischer-Zeitung
Große Aufregung im Land: Volkswagen verbannt die Currywurst in einer Kantine. Währenddessen erreichen die Nöte der Landwirte nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Mit der aktuellen Notierung kommen die Bauern bei steigenden Ansprüchen an das Tierwohl nie und nimmer zurecht. Die Afrikanische Schweinepest und der geringe Importbedarf der Chinesen lassen die Schweinepreise dahin dümpeln, als ob steigende Kosten für Energie und Futtermittel sowie Verbesserungen in der Tierhaltung ohne Mehraufwand zu stemmen seien.
Der Kurs für Schweine muss von den Entwicklungen an den hiesigen und internationalen Schlachtvieh- und Fleischmärkten entkoppelt werden. Die Notierung plus Bonus X gleicht einem Roulettespiel. Die landwirtschaftlichen Betriebe benötigen Sicherheit, damit ihnen der gewünschte Umbau der Nutztierhaltung gelingt. Schon viel zu viele Höfe haben aufgegeben.
Alle großen Lebensmitteleinzelhändler (LEH) wollen ihr Angebot an Frischfleisch auf die Haltungsformen der Stufen 3 und 4 peu à peu umstellen. Gegenwärtig ordert der LEH zu wenig Tierwohlfleisch, und dem kleinen Angebot stehen hohe Abschriften gegenüber. Wir brauchen also dringend eine ehrliche Diskussion und neue Kalkulationsmodelle, bevor die Produktion baden geht.

Hannoversche Allgemeine
Besonders zur sommerlichen Grillsaison überbieten sich die großen Lebensmittelketten immer noch mit Fleischangeboten, bei denen einem der Appetit vergehen kann. Denn zu den Aktionspreisen kann kein Schwein, kein Rind und kein Huhn tierfreundlich gehalten werden, ohne dass der Landwirt am Ende draufzahlt.
Für die Bauern lohnt sich die konventionelle Tierhaltung nur noch in großem Stil. Doch Massentierhaltung wird erstens von immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten nicht gern gesehen, zweitens führt sie zu erheblichen Umweltproblemen, und drittens produziert sie mehr und mehr Fleisch, was den Preis immer weiter drückt – eine klassische Abwärtsspirale.
Bei den aktuellen Preisen halten viele Bauern nur noch mit großer Mühe durch. Viele werden in den nächsten Jahren entweder ihren Betrieb umstellen müssen, damit sie das besser bezahlte Biofleisch herstellen können. Oder sie müssen aufgeben.

Frankfurter Allgemeine Zeitung
In den vergangenen zehn Jahren hat in Hessen alle 1,3 Tage ein Bauer sein Hoftor für immer verschlossen. Bei Betrieben mit Tierhaltung ist der Schwund sogar noch größer. Während die landwirtschaftlich genutzte Fläche in der Summe fast gleich blieb, ist die Zahl der großen Nutztiere erheblich gesunken.
Die landwirtschaftliche Tierhaltung steht unter Druck. Bilder von Sauen, die fixiert am Boden liegen oder verletzt im Dreck stehen, möchte die Gesellschaft zu Recht nicht mehr sehen. Die Würde der Tiere rückt immer mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion, und das ist auch gut so. „Qualfleisch“ wollen viele Menschen nicht mehr essen. Bei den meisten Landwirten ist die Diskussion schon lange angekommen, und insbesondere Biohöfe mit Direktvermarktung nutzen das Wohl ihrer Tiere durchaus auch als Marketinginstrument.
Die Transformation zu einer stärker auf den Tierschutz ausgerichteten Landwirtschaft verläuft jedoch nicht reibungslos. In Deutschland wird traditionell wenig Geld für Nahrungsmittel ausgegeben, höhere Lebensmittelpreise gelten im Handel als nur schwer durchsetzbar. Der Grill darf gerne 200 € kosten, das Grillsteak sollte aber schön günstig sein.
So funktioniert das nicht, denn Landwirte benötigen trotz aller Subventionen auch kostendeckende Erzeugerpreise, um den Forderungen nach mehr Tierwohl und Umweltschutz nachkommen zu können. Strengere gesetzliche Vorgaben sind richtig, aber nur ein Teil der Lösung, denn wenn sich die Haltung nicht mehr rechnet, muss der Bauer seine Stalltür schließen.
Die Folgen des Höfesterbens sind gravierend: Rinder, die nicht mehr in der Wetterau gehalten werden, stehen dann halt auf gerodeten Waldflächen in Argentinien. Abgesehen davon, dass dies eine Katastrophe für den Umweltschutz in Südamerika ist, hat die Corona-Pandemie eindrucksvoll vor Augen geführt, wie schnell internationale Lieferketten unterbrochen werden können. Die Politik, der Handel und die Landwirtschaft stehen vor der Herausforderung, Umweltschutz, Tierwohl und ein ausreichendes Einkommen für die Bauern unter einen Hut zu bringen.

Allgemeine Zeitung (Mainz)
Ein staatliches Tierwohl-Siegel für Fleisch ist überfällig. Nur auf diesem Weg kann für die Verbraucher eine verlässliche Informationsgrundlage geschaffen werden, auf der sie selbst entscheiden können, wie viel ihnen das Tierwohl wert ist. Allerdings stoßen nationale Alleingänge an die Grenzen des EU-Binnenmarktes, da ein einzelnes Land ein verpflichtendes Logo nicht vorschreiben kann. Deshalb wird die nächste Bundesregierung auf europäischer Ebene einen entsprechenden Vorstoß unternehmen müssen.
Gleichzeitig sollte das nächste Verbraucherschutzministerium erneut einen Plan für ein freiwillig verwendbares Siegel unter staatlicher Aufsicht vorlegen, das als Vorlage für ein europäisches Logo dienen kann. Wichtig ist dabei, dass ein Tierwohl-Label nicht nur die Haltungsformen während der Mast berücksichtigen, sondern auch die Aufzucht und den Tiertransport miteinbezieht. Ein Siegel sollte zudem über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen. Von einem allgemein verständlichen, nachvollziehbaren und einheitlichen Siegel könnten Verbraucher, Handel und Produzenten profitieren.