Kontrovers: Pressestimmen

„Sofortprogramm“ der Grünen: Vetorecht für ein Klimaministerium?

Das Urteil der Medien zum "Klimaschutz-Sofortprogramm" der Grünen im Bundestagswahlkampf geht weit auseinander.


Frankfurter Rundschau

Das Grünen-Duo Baerbock und Habeck ist mit dem Klimaschutzsofortprogramm im Falle einer Regierungsbeteiligung klug gestartet. Die Mitbewerber werden ebenfalls Farbe bekennen müssen, welche Schlüsse sie aus den Katastrophen an Ahr und Erft ziehen und wie es vor allem kurzfristig im Kampf gegen den Klima­wandel weitergehen soll. Das ist bislang das Alleinstellungsmerkmal der Grünen: Sie legen die Karten auf den Tisch, was sie bei Regierungsbeteiligung in den ersten 100 Tagen angehen wollen.


Süddeutsche Zeitung (München)

Ein eigenes Ministerium für das Klima, mit Vetorecht gegen Gesetzesvorhaben, die nicht mit den Zielen des Pariser Vertrages kompatibel sind: Das Vorhaben taugt nicht als Aufreger. Schließlich vergessen die Kritiker, dass das Grundgesetz auch andere Vetos kennt, etwa die des Finanzministers. Die Frage ist also: Ist das Klima von einer vergleichbaren Tragweite wie die Staatsfinanzen? Daran kann kein Zweifel bestehen. Schließlich bestimmt der CO2-Gehalt der Atmosphäre über die Lebensgrundlagen der nächsten Jahrhunderte. Dagegen wirkt eine Neuverschuldung fast bedeutungslos. Um die Erderwärmung einzudämmen, ist es unabdingbar, dass die Treibhausgase innerhalb eines begrenzten Budgets bleiben. Deutschland kann das Ziel, klimaneutral zu werden, aber nur dann erreichen, wenn die neue Bundesregierung die Klimakrise als Gemein­schaftsaufgabe versteht – und nicht als ausgegliederten Bereich.


Focus (München)

Klima-Offensive bei Gebäuden und im Bausektor: Die Kosten des CO2-Preises beim Heizen sollen von den Hauseigentümern getragen werden. Der Vorteil: Das klingt schön antikapitalistisch. Der Nachteil: Die Eigentümer werden diese Steuererhöhung auf den Mietpreis abwälzen. Nur die Eigenheimbesitzer zahlen selbst.Der Tierschutz-Cent: Die Grünen wollen den Bauern beim Umbau der Ställe finanziell unter die Arme greifen, um mehr Tierwohl zu schaffen. Der Denkfehler: In der Dreiecksbeziehung Bauer-Supermarkt-Verbraucher trägt nicht der Bauer die Schuld am Leiden der Tiere. Solange der Verbraucher kaltschnäuzig nach Billigfleisch verlangt, das der Supermarkt ihm willig anpreist, also „erst das Fressen, dann die Moral“ kommt, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, solange wird auch der Bauer zur Massentierhaltung gezwungen sein. Der Tier-Cent hilft den Grünen, aber nicht der gequälten Kreatur.
Bildung eines Klimaschutz-Ministeriums mit Vetorecht: Vorsicht Mogelpackung! Die Richtlinienkompetenz der neuen Bundesregierung liegt (wie gehabt) beim Bundeskanzler. Das Budgetrecht – also die Legitimation, in letzter Instanz über Einnahmen und Ausgaben zu entscheiden – besitzt seit Bismarcks Zeiten das Parlament. Das bedeutet: Das Vetorecht der Grünen wird den Wahltag nicht überleben.


Frankfurter Allgemeine Zeitung

So unterschiedlich die Akzente von CDU und Grünen auf dem Feld des Klimaschutzes sind, eines eint die beiden Parteien: Sie wollen den Eindruck vermitteln, dass der Kampf gegen den Klimawandel im Wesentlichen mit finanziellen und technischen Änderungen gewonnen werden kann, etwa mit dem Instrument der CO2-Bepreisung oder dem Ausbau von Windkraft- und Solarstromanlagen.
Den Mut aber, den Bürgern offen zu sagen, dass ihr Lebensstil, und sei es nur in Teilen, womöglich keine Zukunft hat, sucht man vergebens. Die Angst, als Spielverderber dazustehen oder – schlimmer noch – als jemand, der den Menschen ihre Freiheit nehmen und ihnen sagen will, wie sie zu leben haben, ist offenbar zu groß. Dabei tut Politik das ständig. Nicht nur in der Pandemie wurde und wird den Menschen bis ins Detail gesagt, wie sie zu leben hätten. Auch die Festsetzung von Steuersätzen durch politische Entscheidungen ist letztlich nichts anderes als eine – vielfach schwere – Beeinträchtigung der Freiheit des Menschen, weil er von dem Lohn für seine ­Arbeit einen erheblichen Teil nicht für sich ­verwenden darf.
Das zweite Großthema ist der Fleischverbrauch. 2013, als die Grünen kurz vor der Bundestagswahl im Mittelwert der Umfragen unter 10 % lagen und nicht annähernd so regierungshungrig waren wie heute, haben sie die Forderung aufgestellt, in öffentlichen Kantinen solle einmal in der Woche kein Fleisch angeboten werden. Das war für andere Par­teien eine perfekte Vorlage, um den Grünen vorzuwerfen, sie mischten sich zu sehr in das Leben der Menschen ein. Die Partei hat da­raus Lehren gezogen. Im aktuellen Sofortprogramm zum Klimaschutz heißt es, um die Landwirtschaft „klimagerecht aufzustellen“, müssten weniger Tiere gehalten werden. Devise: Bloß nicht den Wähler verprellen.


Die Zeit (Hamburg)

Die Grünen geben sich mit ihrem Programm und dessen Vorstellung radikal. Sie sparen auch nicht mit Kritik an der amtierenden Bundesregierung und damit an der Union. Dennoch sollen mögliche künftige Koalitionsverhandlungen nicht unnötig erschwert werden.
Punkte wie eine Pflicht für Solardächer, die sich im Sofortprogramm der Grünen finden, lehnen FDP und Union ab, ebenso wie eine vorgezogene CO2-Preiserhöhung, um nur ­einige Beispiele zu nennen. Vor allem aber ­lehnen sie eine Aufweichung der Schuldenbremse ab, die gewissermaßen die Grundlage dafür wäre, dass die Grünen ihre umfang­reichen Investitionsprogramme zugunsten des Klimaschutzes überhaupt umsetzen ­könnten.
Doch die Grünen haben mit ihrem Programm ein gutes Argument auf ihrer Seite. Auch ­Union und FDP versprechen schließlich, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral werden soll. Sie werden also in Zukunft ihrerseits die Frage beantworten müssen, wie das geschehen soll, wenn nicht mit den Methoden, die die Grünen jetzt vorgeschlagen haben.