Frau Neubaur, herzlichen Glückwunsch zum Wahlerfolg. Haben Sie das Ergebnis erwartet?
Schon über den Sommer zeichnete sich ab, dass wir ein gutes Ergebnis erreichen können. Die Denke und der Blick der Menschen in NRW richtet sich auf die Themen der Gegenwart. Der Corona-Shutdown hat das bekräftigt, zum Beispiel beim Thema regionale Lebensmittelversorgung. Und der dritte Hitzesommer in Folge hat das Thema Klima noch stärker ins Bewusstsein gerückt. Gleichzeitig haben wir eine hochmotivierte Basis in NRW, unsere Mitgliederzahl ist seit 2017 um 65 % auf mehr als 21.000 gestiegen. Den Gluckwünsch reiche ich deshalb an alle Ehrenamtlichen weiter, die sich für die Grünen engagieren.
Besonders gut haben die Grünen in Universitätsstädten wie Köln, Bonn und Aachen sowie anderen Großstädten abgeschnitten. Wie erklären Sie das?
Wir sind vor Ort und machen Politik für die Menschen. Das zeigt sich bei alltäglichen Dingen wie beispielsweise bürgerfreundlicheren Abläufen im Einwohnermeldeamt oder Fragen rund um Kindertagesstätten sowie Schulen. Entscheidend waren bei diesen Wahlen aber die großen Themen Verkehr und Klima. Hier haben uns die Wähler die höchste Kompetenz zugeschrieben.
"Wir nehmen junge Menschen sehr ernst"
Bei den 16- bis 24-Jährigen sind die Grünen stärkste Kraft in NRW. Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Der Grünen-Grundsatz „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ sagt es eigentlich schon: Wir müssen die Erde im bestmöglichen Zustand an die Nachfolgegeneration weitergeben. Unsere Wahlprogamme denken seit 40 Jahren in Generationen. Ich finde es super, dass sich junge Menschen zunehmend politisieren. Sie haben das ganze Leben noch vor sich. Und sie sind Experten darin, aus der Sicht eines jungen Menschen auf die Welt zu blicken. Wir nehmen diese jungen Menschen in unserer Partei sehr ernst, trauen ihnen etwas zu und übertragen ihnen Verantwortung. Wir begegnen ihnen auf Augenhöhe und mit Respekt.
Auf dem Land konnten die Grünen nicht so stark punkten. Warum nicht?
Wir haben deutlich aufgeholt im ländlichen Raum, sind in allen NRW-Kreisen zweistellig. In zehn Kommunen stellen wir jetzt sogar Bürgermeister. Im Münsterland, in der Eifel und am Niederrhein. Denn klar ist doch: Eine intakte Natur beschäftigt die Menschen auf dem Land noch mehr als die Menschen in der Stadt – schließlich leben sie dort. Richtig ist aber, dass es auf dem Land schwerer ist, die Menschen zu erreichen. Das liegt schon allein an der Infrastruktur, zum Beispiel an der Erreichbarkeit der Geschäftsstellen.
Kann es zu einer Zerreißprobe zwischen Stadt und Land in NRW kommen?
Wir machen das Spiel „Stadt gegen Land“ nicht mit. Wir stehen für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse überall in NRW.
Bei den Agrarthemen haben Sie im Wahlkampf stark polarisiert, zum Beispiel mit dem Plakat „Grün ist auch ohne Glyphosat die dicksten Kartoffeln zu haben“. Wie passt das mit dem Wunsch des Dialogs und der gesellschaftlichen Annährung zusammen?
Der WLV hat in seiner „Offensive Nachhaltigkeit“ sinngemäß geschrieben, dass Landwirte die Art und Weise ihres Wirtschaftens verändern müssen, um Akzeptanz nicht vollends zu verlieren. Das greifen wir auf. Wir wollen bäuerlichen Betrieben in NRW eine Zukunft geben. Landwirte müssen mit Tierhaltung, mit ihrer Arbeit Geld verdienen können. Keinesfalls wollen wir die vertikale Integration in der Landwirtschaft, wo der Landwirt nur noch Angestellter eines riesigen Agrarkonzerns ist. Allerdings müssen wir auch feststellen, dass nicht alle Landwirte offen für Veränderungen sind. Ein Teil profitiert vom System Wachse oder Weiche und will alles so lassen, wie es ist.
Sie meinen einen Teil der Landwirte, zielen aber auf alle Landwirte. Im Nachhinein: War das klug?
Ja. Im Wahlkampf geht es um klare, erkennbare Positionen. Und in Kampagnen sind plakative Sprüche normal, um diese Positionen zuzuspitzen. Wichtig ist mir aber: Wir meinen niemals den individuellen Landwirt, unsere Kritik richtet sich an das Agrarsystem. Erschrocken war ich, wie einzelne das bewusst falsch interpretiert haben. Sie haben sich vor unsere Wahlplakate gestellt und in den Sozialen Netzwerken Stimmung gegen die Grünen gemacht. Ich habe das Gespräch mit mehreren dieser Personen gesucht. Der Austausch war immer respektvoll. Und als Ergebnis kam heraus, dass wir die gleichen Ziele verfolgen, nur die Wege dorthin unterschiedlich sind.
"Grün heißt nicht per se ökologische Landwirtschaft"
Heißt „Grün“ automatisch ökologische Landwirtschaft?
Gute Frage! Grün heißt: Eine politisch unterstützte Landwirtschaft außerhalb der Globalisierung, mit Fokus auf Regionalität sowie Umwelt- und Tierschutz, mit der Landwirte für ihre gute Arbeit einen angemessenen Lohn bekommen. Kurzum: Eine Landwirtschaft, die nachhaltig arbeitet.
Also die Antwort auf meine Frage?
Nein, Grün heißt nicht per se ökologische Landwirtschaft.
Die Farm-to-Fork-Strategie fordert 25 % Ökoanteil in der EU bis 2030. Ist Ihnen das ambitioniert genug?
Erst einmal finde ich die Ansätze richtig. Allerdings sollte die Antwort nicht sein, in konventionelle und ökologische Landwirtschaft zu unterteilen. Wenn es um das Geld der europäischen Steuerzahler geht, muss das ganze System dem Gemeinwohl dienen. Ökologie und Ökonomie müssen Hand in Hand gehen. Dazu ist eine komplett andere Förderung der Landwirtschaft nötig: Weg von der pauschalen Hektarprämie, hin zu Prämien für die Leistung der Landwirte bei Tierwohl, Umwelt- sowie Klimaschutz. Es mangelt nicht an Vorschlägen dafür, die politisch Verantwortlichen müssen diese nur endlich umsetzen!
Welche Vorschläge meinen Sie?
Zum Beispiel die verpflichtende Herkunftskennzeichnung oder die Gesetze, die Marktmacht des Lebensmittelhandels einzudämmen. Die Bauern müssen im Mittelpunkt stehen, nur dann halten wir sie in Deutschland und Europa.
"Nutztierhaltung mit Tierwohl ist möglich"
Die konventionelle Landwirtschaft steht stark in der Kritik. In Deutschland sollen die Vorschläge der Borchert-Kommission einen Zukunftsweg für die Tierhaltung zeichnen. Wie stehen Sie dazu?
Die Agrarwende wird nur gelingen, wenn alle mitmachen. Beim staatlichen Tierwohlsiegel ist das Vorgehen von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner allerdings fatal. Mehr Tierwohl sowie Umwelt- und Klimaschutz müssen gesetzlich verbindlich sein. Stattdessen schiebt sie die Entscheidung mit Kampagnen wie „Du entscheidest“ in Richtung Verbraucher. Das halte ich für den falschen Weg. Wenn wir die Landwirte hier halten wollen, müssen sie auch Geld für die höheren Standards bekommen. Da bin ich ganz bei den Empfehlungen der Borchert-Kommission. Landwirte brauchen eine Investitionssicherheit für zehn bis fünfzehn Jahre. Die Realität sieht derzeit aber anders aus: Landwirte hängen in Krediten fest und haben keine wirtschaftlichen Alternativen zum aktuellen Produktionsverfahren.
Wie lässt sich vermeiden, dass die Landwirtschaft durch die höheren Standards aus Deutschland abwandert?
Wir Grünen wollen ein starkes Europa, deshalb brauchen wir eine europäische Lösung. Der Blick in unsere Nachbarländer lohnt sich übrigens: Österreich und Schweiz haben die Landwirte unterstützt und somit bäuerliche Betriebe gehalten.
Auch von Ihren Wählern kommen Forderungen, die Tierhaltung komplett abzuschaffen und sich vegan zu ernähren. Wie gehen Sie damit um?
In der Landespartei gibt es keine Debatte dazu. Ich bin überzeugt: Nutztierhaltung mit Tierwohl ist möglich!
"Die Volksinitiative ist eine Einladung an Landwirte"
Die Grünen unterstützen die „Volksinitiative Artenvielfalt“ in NRW. Warum?
Die Dramatik des Artensterbens findet selten in der Öffentlichkeit statt. Dabei hängt unser gesamtes Leben auf dieser Erde davon ab. Wir wollen das Bewusstsein der Menschen schaffen, dass sich etwas ändern muss. Und die Wahrheit ist, dass sich seitens der schwarz-gelben Landesregierung nichts tut, um den Artenschwund zu stoppen.
An wen richtet sich Ihre Kritik?
Es ist eine Einladung an Landwirte. Wir ergreifen Partei für sie, beispielsweise beim Thema Flächensparsamkeit oder dem Erschließen neuer Märkte für regionale Produkte, zum Beispiel in den Kantinen von Schulen und Behörden.
Gleichzeitig könnte es deutlich höhere Auflagen geben – obwohl sich etliche Landwirte schon jetzt freiwillig für Artenvielfalt sowie Umwelt- und Klimaschutz engagieren…
Bei Thema Flächenverlust stehen wir ganz auf der Seite der Landwirte: Jeder versiegelte Hektar bedeutet weniger Artenvielfalt. Das müssen wir dringend stoppen. Beim Thema Pestizide sind wir auf dem Weg zum gleichen Ziel, aber in unterschiedlichen Ansätzen. Hier sollte die Landwirtschaft intensiver Alternativen zur Chemie annehmen.
Sie stehen in vielen Ansichten auf Konfrontation mit der CDU. Was tun Sie, wenn die Grünen bei der nächsten Bundes- oder Landtagswahl mit der CDU koalieren könnten und Regierungsverantwortung übernehmen könnten?
Die Grünen verkörpern einen neuen Politikstil: Wir reden sehr viel über neue Ideen - auch außerhalb der Grünen Komfortzone. Wir lassen uns auch auf Bauernverbandsempfängen blicken. Immer respektvoll. Das macht uns relevant. Klar ist: Je besser unser Wahlergebnis, desto besser unsere Verhandlungsposition. Wir werden mit allen Parteien, außer rechtsextremistischen, über eine Zusammenarbeit reden.
Die Corona-Krise als Chance?
Die Corona-Krise ist eine riesige Herausforderung. Kann sie auch eine Chance für schrumpfende Regionen in NRW sein, weil durch Home-Office jetzt „Leben auf dem Land und arbeiten in der Stadt“ besser vereinbar ist?
Ja. In einigen Städten fehlt Wohnraum oder ist unbezahlbar, in manchen ländlichen Regionen verfallen dagegen Immobilien. Nutzen wir die Chance, dann vergeuden Pendler weniger Lebenszeit im Auto und entlasten gleichzeitig die Umwelt. Von alleine passiert das aber nicht.
Wer muss was tun?
Politische Entscheidungen sind nötig. Denn es gibt ungeklärte Fragen: Wie funktioniert Home Office wirklich, was ändert sich im Arbeitsrecht und was passiert mit den freiwerdenden Büroräumen in der Stadt? Hier ist politische Gestaltung gefragt, klare Rahmen zu setzen – sonst droht Chaos.
Zur Person:
Mona Neubaur ist 1977 in Bayern geboren, seit 1997 lebt sie in Nordrhein-Westfalen. Ihr Studium zur Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat sie 2003 abgeschlossen und danach in der Energiewirtschaft bei einem alternativen Energieversorger gearbeitet. 2005 ist sie in die Partei eingetreten, 2007 zur Sprecherin der Düsseldorfer Grünen gewählt, 2014 zur Vorsitzenden des Landesverbandes. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind Umwelt,- Energie- und Klimaschutz, Verkehrspolitik und die Verteidigung der liberalen Demokratie. Zweiter Landesvorsitzender der Grünen in NRW ist Felix Banaszak.